Ich bin Alles und Nichts.
Tausend Füchse und doch nur einer.
Das Mädchen hinter der Kamera,
Dein Auge.
Bunt spiegelt sich die Welt in dir,
Golden gesprenkelt.
In dir die ganze Welt
Vereint zum Tanz der Liebenden.
Du suchst und rennst und sehnst,
Unsichtbar der Weg,
Deine Karte im Herzen.
Bleib endlich stehen,
Erkenn dich in dir, vergiss dich
Und du siehst:
Du bist Alles, und Alles ist Du.
Monat: Juni 2020
Im Kreis
Ein schwarzer Punkt unter meiner Lampe. Ich beobachte sie von meinem Bett aus. Schon wieder hat es eine in den mysteriösen Sog unter meinem Leuchter gezogen, sie kommt so schnell nicht mehr los. Welche Kräfte da wohl wirken?
Sie fliegt im Kreis oder eher in einem Acht- bis Zwanzigeck. Sie stößt immer wieder an die Mauern ihres Gedächtnisses, immer wieder kommt sie an den Punkt, an dem sie sich entscheidet nach links zu fliegen, wieder und wieder. Immer wieder vergisst sie, welchen Weg sie schon genommen hat, woher sie gekommen ist, und dass sie dort nie weiterkam. Nach einigen Achtecken Richtungswechsel. Oh, ein ganz neuer, unerschlossener Weg! Und die Mauer, und nach rechts, und die Mauer, und wieder nach rechts. Und doch immer nur im Kreis.
Manchmal schafft sie es auszubrechen, hinaus in die Freiheit durchs Fenster oder wenigstens durch die Tür in ein anderes Zimmer. Was mit ihr dann geschieht, weiß ich nicht. Vielleicht fliegt sie dort auch im Kreis, vielleicht verwandelt sie sich dort und bricht aus dem Kreislauf ihres Fliegenlebens aus. Vielleicht verwirklicht sie sich selbst? Es gibt keine Beweise, und um ihr zu folgen, müsste ich schon aufstehen.
Manchmal bleibt sie am Essen kleben, vergisst dann alles um sie herum. Genauso funktionieren Fallen, süß und klebrig, tödlich.
Meistens lebt sie nur einen Tag, und was macht sie damit? Sich fortpflanzen, im Kreis fliegen. Hat sie ein Ziel? Vielleicht, aber sie vergisst es, kennt es nicht. Oder sie verliert es aus den Augen. Das Ziel der meisten ist sich fortzupflanzen, die eigene Art zu erhalten. Würde sie den Sinn ihres Lebens entdecken, wenn sie länger lebte? Wenn sie sich anstatt auf das Süße, Klebrige auf sich und ihren Weg konzentrierte? Vielleicht.
Und manchmal ist sie so richtig lästig, sie fliegt immer wieder zu mir, auf meinen Kopf, meine Lippen, meine Schultern und Füße. Dann habe ich das Gefühl, sie will mir etwas sagen, sie hat mich gefunden und lässt mich nie wieder los. Liebe Fliege, das wird nichts in diesem Leben. Ich hoffe, du findest dein Glück, brichst aus, findest die wohlschmeckendste Speise der Welt. Mach was aus diesem Tag, aber bleib mir jetzt vom Leib, lass mich in Ruhe.
Hat sie mich verstanden? Sie fliegt weiter im Kreis. Einen kurzen Blinzelmoment nicht aufgepasst – und sie ist wie vom Erdboden verschwunden.
(Halle, 01.06.2020)