Im Kreis

Ein schwarzer Punkt unter meiner Lampe. Ich beobachte sie von meinem Bett aus. Schon wieder hat es eine in den mysteriösen Sog unter meinem Leuchter gezogen, sie kommt so schnell nicht mehr los. Welche Kräfte da wohl wirken?

Sie fliegt im Kreis oder eher in einem Acht- bis Zwanzigeck. Sie stößt immer wieder an die Mauern ihres Gedächtnisses, immer wieder kommt sie an den Punkt, an dem sie sich entscheidet nach links zu fliegen, wieder und wieder. Immer wieder vergisst sie, welchen Weg sie schon genommen hat, woher sie gekommen ist, und dass sie dort nie weiterkam. Nach einigen Achtecken Richtungswechsel. Oh, ein ganz neuer, unerschlossener Weg! Und die Mauer, und nach rechts, und die Mauer, und wieder nach rechts. Und doch immer nur im Kreis.

Manchmal schafft sie es auszubrechen, hinaus in die Freiheit durchs Fenster oder wenigstens durch die Tür in ein anderes Zimmer. Was mit ihr dann geschieht, weiß ich nicht. Vielleicht fliegt sie dort auch im Kreis, vielleicht verwandelt sie sich dort und bricht aus dem Kreislauf ihres Fliegenlebens aus. Vielleicht verwirklicht sie sich selbst? Es gibt keine Beweise, und um ihr zu folgen, müsste ich schon aufstehen.

Manchmal bleibt sie am Essen kleben, vergisst dann alles um sie herum. Genauso funktionieren Fallen, süß und klebrig, tödlich.

Meistens lebt sie nur einen Tag, und was macht sie damit? Sich fortpflanzen, im Kreis fliegen. Hat sie ein Ziel? Vielleicht, aber sie vergisst es, kennt es nicht. Oder sie verliert es aus den Augen. Das Ziel der meisten ist sich fortzupflanzen, die eigene Art zu erhalten. Würde sie den Sinn ihres Lebens entdecken, wenn sie länger lebte? Wenn sie sich anstatt auf das Süße, Klebrige auf sich und ihren Weg konzentrierte? Vielleicht.

Und manchmal ist sie so richtig lästig, sie fliegt immer wieder zu mir, auf meinen Kopf, meine Lippen, meine Schultern und Füße. Dann habe ich das Gefühl, sie will mir etwas sagen, sie hat mich gefunden und lässt mich nie wieder los. Liebe Fliege, das wird nichts in diesem Leben. Ich hoffe, du findest dein Glück, brichst aus, findest die wohlschmeckendste Speise der Welt. Mach was aus diesem Tag, aber bleib mir jetzt vom Leib, lass mich in Ruhe.

Hat sie mich verstanden? Sie fliegt weiter im Kreis. Einen kurzen Blinzelmoment nicht aufgepasst – und sie ist wie vom Erdboden verschwunden.

(Halle, 01.06.2020)

Veröffentlicht von

lenkasause

Die Worte flossen aus meinen Fingern, ich verstehe sie erst jetzt...

9 Gedanken zu „Im Kreis“

      1. Ja, wäre sie an, würde ich es verstehen, aber so? Wie so eine Art Phantomschmerz, also eine Phantomanziehung ^^ klingt nach einem Phänomen für die tinder-Generation.

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      2. Ha, 1082 Wörter und eine komplette Geschichte mir abruptem Ende. Ich denke, die braucht noch ne Überarbeitung, aber vielleicht magst du heute Abend mal auf meinen Blog schauen. 😉

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  1. Puh, das ist ja mal eine spannende Erzählung über Fliegen!! Ja, so ist es echt!!! Ich stehe dann immer auf, mache das Licht aus, öffne das Fenster und versuche sie irgendwie raus zu bekommen – aber die sind schnell! Haben bessere Reaktionen als ich und glauben nicht, dass ich es nur gut meine. Manchmal liegen sie am anderen Tag auf der Fensterbank, tot, und ich lasse sie mit dem Wunsch zu einem letzten Flug nach Draußen. Wie oft habe ich beim LKW Fahren angehalten um diese Insekten von der Scheibe wegzuwedeln – denn sie fallen nach kurzer Zeit weil sie sich nicht mehr halten können in den heißen Kühler… doch so kann man hier als Mensch auch nicht überleben. Hab es aber bis jetzt geschafft.

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