Schnüre und Scheren

Endlich bin ich aufgewacht. Was für ein Traum.

Mir träumte, ich sei in einem Ich gefangen, das sich ständig im Kreis dreht, Opfer seiner eigenen Gedanken.

Es waren dies keine von der netten Art. Sie flüsterten wie gemeine Mitschüler — ja, lasst euch sagen: Wer flüstert, der lügt und frisst kleine Kinder, wahre Geschichte!

Sie hatten mich an ihren Schnüren, und sie zogen mal hier, mal dort, ich bewegte mich nach ihrem Gusto. Sie ließen mich Mauern bauen und Fluchtwege, und es machte ihnen Spaß, mir beim Fallen zuzuschauen.

Nun bin ich niemand, die hinfällt und liegen bleibt. Immer wieder stehe ich auf, bleibe kurz stehen, bis der Schwindel nachlässt, und gehe dann weiter. Da muss noch was kommen, sage ich dann, weil es mir vorher mein Herz versprach. Das weiß sowieso schon alles früher, nur verrät es das nicht, wäre ja langweilig. Oder vorhersehbar. Ha.

Dieser Traum also. Ich drehte mich im Kreis, meine Gliedmaßen an Schnüre gebunden, und es gab keinen Ausweg.

Doch da entdeckte ich eine Schere, eine Gestalt bot sie mir an. Sie war von jener Art von Traumgestalten, die plötzlich auftauchen, ohne Gesicht, nur verschwommen erkennbar und so schnell wieder verschwunden, dass sie auch aus der Erinnerung leicht entfleuchen.

Mit den ersten durchtrennten Fasern lösten sich die Fäden ganz leicht, als hätten sie nur darauf gewartet, auch von mir erlöst zu werden. Der Aufprall auf den Boden war hart. So hart, dass ich aufwachte.

Wer bin ich ohne diese Schnüre? Die mich gefangen hielten und gleichzeitig Sicherheit boten. Dank denen ich wusste, wohin ich zu gehen hatte, was ich tun sollte. Jetzt bin ich frei. Und nun?

[Halle, 14.09.2020]

Veröffentlicht von

lenkasause

Die Worte flossen aus meinen Fingern, ich verstehe sie erst jetzt...

7 Gedanken zu „Schnüre und Scheren“

  1. Die Welt umgarnt uns, nimmt uns in ihren Fängen gefangen. Wir befreien uns. Du hast das Glück gesehen. Eine rettende Gestalt reicht dir die Schere, um Fäden des Schicksals, ob sie nun gut sind oder böse, die Parzen, eigenhändig zu durchtrennen. Die Freiheit währt nur kurze Zeit. Schnell wirft die Welt ihre Netze wieder aus, denn wir wollen ja noch immer etwas von ihr – haben, sein, bedeuten …
    Wie war das noch mal mit dem Gordischen Knoten? Das Leben hält ihn uns regelmäßig hin.
    Viele Grüße, komm gut ins Wochenende, JL

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