Zimmerservice

Er servierte mir seinen eigenen Kopf auf einem silbernen Rollwagen.

Gerade war ich dabei, mich in diesem seltsamen, mit dunklem Holz verkleideten Hotelzimmer einzurichten, als eine Tür aus dem Nichts aufschwang. Herein tanzten und räkelten sich nackte Frauen. Ihre Bewegungen verdeckten zunächst das, was sie in ihrer Mitte ins Zimmer schoben. Ich erschrak kurz, und doch war ich positiv überrascht ob der Mühe, die er sich gab.

Da lag auf einem Silbertablett auf einem silbernen Rollwagen, auf dem normalerweise in Hotels das Essen aufs Zimmer geliefert wird, der Kopf jenes Typen, den ich eine Stunde zuvor kennengelernt hatte.

Ich war mit meiner Familie unterwegs gewesen und meine Oma hatte Hunger gehabt. Das war gefährlich, denn wenn sie in Unterzucker kam, ging es ihr gar nicht gut. Es ging ihr sowieso nicht mehr gut. Im Traum davor hatte sie gerufen, sie sei eigentlich ganz froh, jetzt bald sterben zu dürfen.

Da stand ich also an einer Theke, es war eine Mischung aus Metzgerei und Bäckerei inmitten eines Volksfestes, und bestellte eine Breze, am besten mit Butter, wenn‘s geht. Der charmante – und ich muss zugeben, wirklich gutaussehende – Verkäufer gab mir eine große Scheibe Leberkäs dazu und reichte mir den Teller.

Geht aufs Haus! Sagte er und zwinkerte mir zu. Den Leuten neben mir schenkte er ihr Essen ebenfalls. Ich hätte daraus ja keine große Sache gemacht. Vielleicht hatte er die Not meiner Oma bemerkt, vielleicht war er einfach gut gelaunt, vielleicht gefiel ich ihm. Das Paar neben mir flüsterte: Da hat sie den Besitzer Altenburg gleich selbst erwischt, und wir haben auch was davon!

Das war also der Besitzer dieses Komplexes. Mitte 30, mit einem großen Selbstbewusstsein, was ich sehr anziehend finde, dunklen Locken und Dreitagebart. Er kam hinter der Theke hervor und ich dachte schon, er spricht mich gleich an. Doch er ging geradewegs zu meiner Familie, begrüßte meinen Vater und meinen Bruder mit Handschlag, machte eine leichte Verbeugung in Richtung meiner Mutter und meinen Großeltern. Natürlich kannten die sich, er war immerhin Besitzer einer Brauerei in der Gegend.

Er strahlte mich an. Ach, das ist eure Tochter? Wir kennen uns noch gar nicht! Thomas Altenburg mein Name, freut mich! Er reichte auch mir seine kräftige Hand, in seinem Blick eine Mischung aus Schalk und Begehren. Nein, das klingt zu billig. Es war vielmehr das Wissen, das uns etwas verband, dass uns hier und jetzt etwas zusammengeführt hatte. Klingt schon wieder zu klischeehaft, aber so war’s eben, was soll ich sagen. Wenn’s prickelt, dann prickelt’s. Ist es nicht schön, wenn es manchmal ganz kitschig wird? Wenn man seine eigene Hollywoodkomödie lebt?

Er verabschiedete sich, dringende Geschäfte.

Fragen Sie mich nicht wieso, aber ich musste daraufhin in das Hotel nebenan einchecken. Vielleicht war meine Familie weitergefahren, oder ich hatte hier zu tun. Die Beliebigkeit der Träume.

Ein wenig geschockt war ich schon, dass man mir ein Zimmer im Erdgeschoss zugeteilt hatte, in direkter Nähe zum Vergnügungssaal, in dem ich ältere Herrschaften zu Schlagermusik Standard tanzen sah. Aber es war nur für eine Nacht, und ich hatte sowieso das Gefühl, dass das hier Absicht war. Dass hier jemand noch Pläne mit mir hatte. Und irgendwie wünschte ich es mir auch.

Dann kam dieser Zirkus aus Frauenleibern und seinem Kopf herein. Ich betrachtete ihn amüsiert. Seine Augen blickten mich an. Willkommen in meinem Hotel, sagte er ein wenig blechern. Er zwinkerte mir zu.

(Halle, 13.01.2022)

Die Rächerin im weißen Kleid

Die ältere Dame legt letzte Hand an. Ein Krönchen auf meinem Kopf, das Prinzessinnenbrautkleid sitzt perfekt, alles ist bereit für die Zeremonie. Sie sieht mich erwartungsvoll an, als wüsste sie, was ich gleich sagen werde. Sie hat Angst davor.

— Hast du mein Schwert? Ich habe so eine Ahnung, dass ich es heute brauchen werde.
Flüstere ich mit gläsernem, von Vorahnungen getrübtem Blick.

Die Dame nickt.

— Also ist es wahr. Ich habe es schon befürchtet.

Sie dreht sich um und zieht ein diamantbesetztes Schwert hervor. Ich erkenne es. Es ist mein Schwert, das vor so vielen Jahren mein ständiger Begleiter war. Wenn ich es in der Hand halte, ist es erstaunlich leicht. Es ist biegsam und scheint für Kinder gemacht. Doch das Äußere täuscht wie immer. Weiß Gott, wie viele Menschen ich damit verletzt und getötet habe.
Doch das sind Szenen, die in meiner Erinnerung verschwimmen. Vielleicht war das gar nicht ich.

Ich muss lachen.

— Tja, dieses Kleid ist nicht für Frauen mit Schwertern gemacht. Wo stecke ich es denn jetzt hin?

Die Dame lächelt.

— Wunderschön siehst du aus. Mächtig. Furchteinflößend. Hier.
Sie reicht mir einen Gürtel passend zum Kleid, an dem eine Scheide befestigt ist.

Ich bete inständig, dass am Ende des heutigen Tages nicht alles rot sein wird.

So gut ich mich gerade fühle, so sehr ich mir meiner bedeutsamen Rolle bewusst bin und auch sicher weiß, dass dieses Kleid allein mir zusteht und ich die Menschen befreien kann – die Stimme meiner Selbstzweifel beginnt sich zu regen.
Sind sich die anderen wirklich sicher, dass genau ich in diesem Kleid stecken soll? Dass ich dieses Schwert tragen darf? Dass ich gleich in einer mystischen Zeremonie zur „Rasenden Retterin der Menschheit“ ernannt werde?

Was für ein unangenehmer Erwartungsdruck.

Ein kleiner, fieser Teil in mir hofft auf eine Verwechslung, auf einen Menschen, der kurz vorher noch dazwischenruft: Halt, ihr habt euch geirrt, ihr habt die falsche Frau, ich bin es doch! Dann würden wir Kleidung tauschen und ich meine Verantwortung an sie abgeben. Was für eine Erleichterung das wäre.

Aber das ist reine Fiktion. Das ist die Angst in meinem Kopf — mein Herz weiß es besser.

Ich trete in den Gang hinaus und gehe in Richtung des Zeremonienzimmers. Dort sehe ich schon ein paar mir liebe Menschen, alle in weiß gekleidet, erwartungsvoll auf mich wartend, sich an den Händen haltend.
Aber ich bin noch nicht soweit. Ich brauche noch einen kurzen Moment.

Als ich die Augen aufschlage, befinde ich mich an einem anderen Ort. Das Kleid ist noch dasselbe, doch von oben bis unten rot und braun. Ich will gar nicht wissen, warum.
Außerdem habe ich gerade andere Sorgen.

Mit einer Hand hänge ich an einer Wand über einem Abgrund. Oben auf dem Felsen stehen meine Mitstreiter und schreien mir etwas zu. Mit seltsamen, rhythmischen Bewegungen des ganzen Körpers ziehe ich die Erd- und Felsmassen nach oben und unten, wodurch sich eine Höhle zu öffnen scheint. Aus dieser fließen Unmengen an Wasser, weswegen ich vorhin dachte, unter mir sei ein Meer.
Die letzten Bilder sind verschwommen. Wir müssen in diese Höhle, das weiß ich noch. Aus welchem Grund, das nicht. Sie greifen uns an, wir kämpfen. Wir verstecken uns. Wir haben Angst, und sind uns doch unserer Stärke bewusst.

Wir haben mich.

Ich für euch, und wenn ich dabei zugrunde gehe. Wunderbarerweise glaubt ihr an mich. Die Verbindung zwischen uns ist so stark, sie ist mein Antrieb, und ich werde alles für euch geben.
Bei meinem diamantbesetzten Gummischwert und dem nicht mehr ganz so weißen, blut- und schlammverschmutzten Hochzeitsrächerinnenkleid. Ich verspreche es euch.

Dann springe ich.