bitte, lass mich endlich aufwachen

hier hängen sie plakate vor flüchtlingsunterkünften, auf denen geschrieben steht: wir hängen nicht nur plakate! hier sind selbst die voller hass und argwohn, die doch alles haben und sich christen nennen. hier höre ich nur worte und taktierende, politische Korrektheit.

politische korrektheit hat anders auszusehen, wenn vor den mauern unseres sogenannten “christlichen” abendlandes die menschen erfrieren, ertrinken und verhungern, die sich einfach nur nach frieden für ihre kinder sehnen. wie können wir uns christen nennen, wenn selbst die kirche nicht hinter ihren werten steht? wie können sich jene christen nennen, die ohne jeglichen glauben aufgewachsen sind? politische korrektheit müsste sich jetzt in taten und nicht in worten ausdrücken.

gleich einem albtraum sehe ich zu, wie alles geschieht, ohne zu wissen, wie ich eingreifen könnte. es scheint, als hätte der hass in den köpfen der menschen nur dornröschenhaft geschlummert. war die kurze phase der demokratisierung und freiheitsliebenden republik nur ein traum? eine illusion?

gleich einem albtraum kann ich nicht vor und nicht zurück, hilflosigkeit breitet sich aus und lähmt mich.

bitte, lass mich endlich aufwachen.

(Halle, 29.02.2016, zuerst auf Tumblr [lenkasletztertraum] veröffentlicht)

Augustsommernacht

Am Horizont dröhnt und kracht es, so stelle ich mir die Geräuschfront eines Krieges vor. Was, wenn der Krieg schon längst vor unserer Haustür ist? Was, wenn diese Stadt eigentlich die ganze Welt darstellt und alles, was wir in der Zeitung lesen, sich nur auf sie bezieht?

Kann gar nicht sein, wir waren doch gerade erst außerhalb, sind nach Bayern gefahren. Oder war das ein Traum?

Was, wenn alles, was wir vermeintlich außerhalb der Stadt erleben, nur ein einziger Traum ist? Die Jahre davor, das Studium in der anderen Stadt, meine Kindheit – Traum. Das Leben beginnt erst mit Übertritt in diese Stadt. Dann verstünde ich, warum mir die Jahre davor viel froher und unbeschwerter erscheinen.

Es war nur ein Traum.

Vielleicht fahre ich bald mal länger weg, nur weg von hier, meinen Ängsten und Zweifeln davon. Kann ich dem Leben entfliehen und für immer träumen? Ist das dann noch Leben? Oder befinde ich mich bei Übertritt in einer Starre, eingefroren, bis ich entscheide, aufzuwachen?

Ich bin oft sehr müde zur Zeit. Warum die ganze Mühe, wenn schlafen doch viel einfacher ist? Wenn im Traum viel mehr passiert als im Wachzustand in dieser Stadt?

Die Zeitungen gaukeln uns tägliche Ereignisse vor. Doch ereignet sich deshalb in unserem ganz eigenen Leben mehr? Was sie auch bewirken: Hoffnungslosigkeit, Ohnmachtsgefühle, Traurigkeit, Fassungslosigkeit, Scham, Wut (wenn ich es zu nah an mich heranlasse). Und das durch Dinge, die in diesem Augenblick nichts mit mir zu tun haben. Die vielleicht nur in der Traumwelt stattfinden, wenn überhaupt. Lieber nicht zu viel lesen.

Mitternacht, ich öffne das Fenster, es ist laut für diese Uhrzeit. Grillen zirpen, aus mehreren Wohnungen Action-Film-Geräusche, hinten am Horizont die Autobahn, Lastwagen an Lastwagen, Feuerwehrsirene. Am Firmament der große Wagen, Cassiopeia, eine Sternschnuppe. Auf der Couch schläft meine Liebe, psst, leise lege mich dazu. Mal sehen, was meine Träume heute offenbaren.

Die schönste Geschichte der Welt

„Waaas würdest du tuuun“, fragte mich mein Freund Rabe, „wenn Du wüüüsstest, Du hast noch genaaau eine Woche zu lääben?“ Er schüttelte seine Flügel aus und schaute mich neugierig mit zur Seite geneigtem Kopf an.
Mich überraschte eine solche Frage nicht. Wir unterhielten uns immer sehr philosophisch und ohne große, höfliche Einleitungen.
„Ich würde die schönste Geschichte der Welt schreiben“, antwortete ich, ohne viel darüber nachdenken zu müssen. „Ich würde es nicht mehr länger aufschieben.“
„Ohhh, interessaant, erzäähl sie mir doch bäätte. Wovon handelt sie denn und warum iist es die schäänste Geschichte der Wäält?“
„Weil ich sie ohne Angst schreiben würde. Ich hätte ja nichts mehr zu verlieren, oder? Könnt nicht versagen, die Meinung der Leute könnt mir egal sein, und ob ich damit erfolgreich bin oder nicht, auch. Die schönste Geschichte der Welt wär deshalb am schönsten, weil ich sie ohne Angst und aufrichtig erzählte. Aber ich kann Dir jetzt nicht verraten, wovon sie handelt, weil ich nicht in sieben Tagen sterbe und weil ich sie nicht aussprechen darf, sonst landet sie nie auf Papier.“ Da war ich ganz abergläubisch. Ziele und Pläne darf man niemandem verraten, sonst werden sie nicht wahr. Und andere wollen zu viel mitreden oder sie dir schlecht machen. Nix gut.
„Och Määnsch“, krähte der Rabe auf meinem Fensterbrett, „gib mir doch wäänigstens ein paar Hinweise. Bääätte. Ich läääbe Deine Geschichten.“
Die schönste Geschichte der Welt hat keinen Anfang und kein Ende. Sie beobachtet und beschreibt, sie interpretiert nicht. Sie enthält Liebe und Tod auf natürliche Weise, sie konstruiert nicht. Es gibt keinen roten Faden, doch alles hängt zusammen. Es gibt keine äußere Ordnung, nur eine innere, für aufmerksame, geduldige Leser auf den zweiten oder dritten Blick erkennbare. Sie wird zur Nicht-Geschichte, wenn man so will, denn die schönste Geschichte der Welt ist das Auflösen dieser, sie ist ein Nicht-mehr-erzählen.

Wie wird eine Geschichte für Dich zur schönsten Geschichte der Welt?

[Essenbach, 2.8.22]