Mein Ich im Du

Ein Blick in den Spiegel ist nie wie Dein Blick auf mich. Ich seh mich so anders, ich seh Dich so anders als Du mich und Du Dich.

Warum sehe ich mich im Spiegel nicht, wie ich wirklich bin?

Spiegelverkehrt.

Das Spiegel-Ich ist nicht mein wahres Ich, oder ist es einfach eine meiner vielen Facetten?

Mein Blick in den Spiegel prägt meinen Blick auf die Welt und wie ich mit ihr umgehe. Der Blick der Welt auf mich kann auch meinen Blick in den Spiegel verändern. Und zeigt der Spiegel nur meinen Charakter, mein äusseres Ich, und existiert mein wahres Selbst unabhängig jeder Spiegelung?

Es braucht diese Reflexion, ohne die sich niemand selbsterkennen kann. Die Frage ist, in welchen Spiegel man blicken und welches Bild man von sich erhalten will.

Mein wahrer Spiegel ist die Welt, sind andere Menschen, bist Du. In Dir spiegelt sich mein wahres Selbst, im Guten wie im Schlechten. Deshalb liebe ich mich durch Dich, und manchmal hasse ich mich, weil Du mein Spiegel mir meine dunklen Seiten aufzeigst. Vielleicht ist das der Grund, warum wir bei unseren Partnern oft unsere schlimmsten Seiten offenbaren, warum wir am hässlichsten ihnen gegenüber sind. Mein Ich im Du.

Am liebsten betrachten wir uns in blankgeputzten Spiegeln, ungetrübt und ohne Filter. Aber gibt es so etwas überhaupt, solange wir alle Menschen sind? Es gibt zumindest jene, durch deren Augen wir uns lieber sehen als durch andere. Das eigene Glas blank zu halten ist auch eine (durchaus nicht leichte) Sache der Übung, der Achtsamkeit.

Bist Du reflektiert? Im Hellen wie im Dunklen, Weiß und Schwarz und alle Farben.

Werde ich mich jemals ganz erkennen? Oder verändert sich mein Blick mit jedem Tag, jedem Jahr, mit dem Sommer und dem Winter, mit jeder neuen Begegnung und jedem neu hinzugewonnenen Wissen?

Die Welt als mein Spiegel – solange sie sich weiter dreht, solange alles weitergeht, verändert sich auch mein Bild im Spiegel. Jeden Tag begegne ich mir, begegne ich Dir neu. Stehen zu bleiben ist wider die Natur, Wandel ist unumgänglich. Ist das nicht wunderbar?

[Halle/Saale, 7.5.23]

Manche Gedichte leben

Manche Gedichte leben 
in meinem Herzen nur,
dort wohnen sie
für immer.

Sie sind unaussprechlich,
nicht in Worte zu fassen,
jeder Versuch raubte ihnen
ihren Zauber.

Verstehen lassen sie sich
nicht, nur fühlen,
und warum also
ausformulieren?

Allein die Poesie vermag
über Bilder auszudrücken,
was sich nicht einfangen lässt, was,
wenn doch in Worten gefangen,
immer nur ein Abglanz
der Wahrheit ist.
[Halle, 1.5.]