Schnüre und Scheren

Endlich bin ich aufgewacht. Was für ein Traum.

Mir träumte, ich sei in einem Ich gefangen, das sich ständig im Kreis drehte, Opfer seiner eigenen Gedanken.

Es waren dies keine von der netten Art. Sie flüsterten wie gemeine Mitschüler — ja, lasst euch sagen: Wer flüstert, der lügt und frisst kleine Kinder, wahre Geschichte!

Sie hatten mich an ihren Schnüren, und sie zogen mal hier, mal dort, ich bewegte mich nach ihrem Gusto. Sie ließen mich Mauern bauen und Fluchtwege, und es machte ihnen Spass, mir beim Fallen zuzuschauen.

Nun bin ich niemand, die hinfällt und nicht mehr aufsteht. Immer wieder stehe ich auf, bleibe kurz stehen, bis der Schwindel nachlässt, und gehe dann weiter. Da muss irgendwas noch kommen, sage ich dann, weil es mir vorher mein Herz versprochen hat. Das weiß ja sowieso schon immer alles früher, nur verrät es das nicht, wäre ja sonst langweilig. Oder vorhersehbar. Ha.

Dieser Traum also. Ich drehte mich im Kreis, meine Gliedmaßen an Schnüre gebunden, und es gab keinen Ausweg.

Doch da entdeckte ich eine Schere, eine Gestalt bot sie mir an. Sie war von jener Art von Traumgestalten, die plötzlich auftauchen, ohne Gesicht, nur verschwommen erkennbar und so schnell wieder verschwunden, dass sie auch aus der Erinnerung leicht entfleuchen.

Mit den ersten durchtrennten Fasern lösten sich die Fäden ganz leicht, als hätten sie nur darauf gewartet, auch von mir erlöst zu werden. Der Aufprall auf den Boden war hart. So hart, dass ich aufwachte.

Wer bin ich ohne diese Schnüre? Die mich gefangen hielten und gleichzeitig Sicherheit boten. Dank denen ich wusste, wohin ich zu gehen hatte, was ich tun sollte. Jetzt bin ich frei. Und nun?

Ein Gedankenspiel

Frei sein. Loslösen. Ich stelle mir vor, nicht von hier zu sein, sondern von einem anderen Planeten. Ohne Wörter für uns Alltägliches. Ohne Vorstellung, wie die Welt funktioniert, nur beobachtend.

Das erfordert enorme Kraft: Genau hinsehen, was für uns Menschen ganz „normal“ ist, was naturgegeben, was von uns gebaut, kultiviert, künstlich ist. Vergessen. Das Überflüssige vergessen. Alles.

Was sind gewisse Vorannahmen, die ich aufgrund meiner Erfahrung mache und mit der ich Dinge beschreibe? Was sehe ich nicht aufgrund meiner Erfahrung? Auf was lege ich besonderes Augenmerk?

Sehe und beschreibe ich manche Dinge so aufgrund meines kulturellen und sonstigen „Hintergrunds“? Aufgrund der Erzählungen, mit denen ich aufgewachsen bin?

Wie erlebe ich mit all meinen Sinnen – oder gar ohne sie? (Bei diesem Gedankenspiel gehe ich davon aus, dass der Ausserirdische die gleichen Sinne hat wie wir Erdenbewohner.) Teilweise fehlt mir der Wortschatz, um Dinge „exakt“ zu beschreiben, doch dann kommt die Poesie ins Spiel – beziehungsweise muss ich mit mir bekannten Wörtern das mir Unbekannte wiedergeben.

(Wird der Außerirdische verstehen, was Liebe ist? Was Ehe ist? Alle vom Menschen gemachten Regeln, Grausamkeiten, Zerstörungen seines eigenen Planeten?)

(Halle, 18.05.19)

Clown und Grau

Ich sitze im Café Riquet in Leipzig. Von meinem Fensterplatz im ersten Stock kann ich gut die vorbeihastenden Menschen unten auf der Straße beobachten. Heute hasten sie ein wenig langsamer, es ist Sonntag und, für Leipzigs Innenstadt, wenig los draußen. Eine Gruppe von ungefähr acht Menschen bleibt genau so stehen, dass ich sie gut betrachten kann. Sehen sie mich auch oder doch nur die Elefanten an der Hauswand? Touristen, vermute ich, denn wie einstudiert wenden sie ihre Köpfe und Augen synchron zu jenen Häuserecken hin, auf die der Finger des jungen Mannes vor ihnen gerade zeigt. Eine grau-schwarz-blaue Melange, die sich dem Gewand der Häuser angepasst hat.

Plötzlich tritt aus dem Innenhof hinter der Gruppe ein Clown: weiss bemaltes Gesicht, rote Nase, bunt gestreifte Hosen und ein ebenso farbiges Oberteil. Er schiebt eine Schubkarre vor sich her, in der er Luftballonfiguren, Bälle und haufenweise andere bunte Gerätschaften transportiert, die ich von hier oben allerdings nicht im Detail benennen könnte. Was für ein wunderschöner Kontrast!

Der Clown geht langsam an der kleinen Menschenansammlung vorbei, sie neugierig betrachtend, als wären sie das verwunderlichste in diesem Augenblick. Irgendetwas sagt er zu ihnen, was, kann ich natürlich nicht verstehen, doch erntet er nur ein, zwei Seitenblicke, keinerlei Beachtung, der Stadtführer ist schon bei der nächsten Geschichte. Gesichter nach oben, erstauntes Nicken.

Entstammt der Clown meiner Fantasie?

Ist er eine ganz normale Erscheinung inmitten des verrückten Alltags, der eigentlich gar keine Geschichte wert ist? Verschwende ich hier meine Bleistiftmine?

In diesem Moment bringt die Kellnerin meinen Tee und das Stück Bratapfeltorte, ich lächle dankend und will weiter über die Gruppe sinnieren – doch ist sie mit dem Clown wie vom Erdboden verschwunden. Sie hat sich in Nichts aufgelöst, als wär’ sie nie dagewesen. Sie ist nur noch ein Bild vor den Augen meiner Erinnerung.