Spiegelung

Der Kies knirschte mit seinen kantigen Zähnen. Schon wieder ein weiterer Besucher, schon wieder einer, der die flachsten Teile seines Selbst in einer raschen Drehung von hinten nach vorne, den Ellenbogen nach innen verdreht, die Hand mit dem Stein nach oben zeigend, möglichst oft über die stille Wasseroberfläche springen lässt.

Keine Sorge, sprach ich zu ihm.

So wie jede Woche? fragte er mich.

Voraussichtlich, nickte ich.

Wir waren beide keine Freunde von überflüssigen Worten.

Mit größtmöglicher Behutsamkeit überquerte ich ihn barfuß und setzte mich ans Ufer des Sees, der zehn Minuten mit dem Fahrrad von meiner Wohnung entfernt und für eine Stunde nun mein Zuhause war.

Wolkenlos der blaue Himmel über dem Wasser. Die Septemberwelt spiegelte sich darin, und je nach Wetterlage, je nach Einfluss von außen, kräuselte, überschlug und trübte sich die Oberfläche, die doch ansonsten so blitzblank sauber vor sich hin glitzerte.

Es ist dies ein Phänomen des Wassers, das doch eigentlich keinerlei Farbe besitzt, jedes Blau oder Grün oder Braun anzunehmen, das sich in ihm spiegeln will oder das sich ungefragt mit diesem vermischt. Hinzu kommen die Jahreszeitenfarben der Blätter, noch an den Bäumen oder auf der Wasseroberfläche schaukelnd gleich den Booten, die die Spannung für einen kurzen Moment durchtrennen.

Von Zeit zu Zeit schnappte ein Fisch nach einer Fliege. Vielleicht machte ihm auch das Springen Spaß oder er musste sich seines Daseins vergewissern, indem er für einen kurzen Moment sein gewohntes Umfeld verließ und nach Luft schnappte.

Wer wusste das schon.

Ich war die Letzte, die ihm ein Selbst-Bewusstsein absprechen würde. Manchmal zweifelte ich sogar an, dass wirklich ich außerhalb des Wassers war, und nicht der Fisch. Wir werden es wohl erst wissen, wenn wir am Ende auf dem Trockenen liegen, all dem entzogen, was wir vorher als Selbstverständlichkeit ansehen.

Derlei Gedankenexperimente und -höhenflüge leistete ich mir einmal in der Woche. Auszubrechen aus dem Hamsterrad des gedanklichen Alltags, das war es, was mir der See versprach – und gebrochen hatte er sein Wort noch nie.

Manchmal führte ich Gespräche mit einem der Reiher, die am Ufer entlang staksten, oder einem der Frösche, die mich mit ihren großen Augen und breiten Mäulern zuerst misstrauisch anglupschten und schließlich in breitem Vorarlberger Dialekt raunzten, was ich denn da eigentlich die ganze Zeit so dumm vor mich hin glotze. Richtig ernst meinten sie das allerdings nie, es war mehr das „leben und leben lassen“, um das sie fürchteten, und es daher mit ein paar liebevoll-groben Quaks sicherstellten. Mit der Zeit hatte sich eine Waffenruhe zwischen uns etabliert wie zwischen zwei Stammtischbrüdern, die einmal in einem etwas lauteren Wortgemenge ihre Grenzen festgesetzt hatten und fortan friedlich nebeneinander ihr wortloses Trinken pflegten.

Bisweilen setzte sich eine andere Menschenseele zu mir, das gleiche Bedürfnis nach der absoluten Stille des Wassers hegend, welche sich in gleichmäßigem Rhythmus tief in dein Herz schwappt. Der See spiegelte alle meine Launen wider, das war verrückt, das konnte ich mir gar nicht ausdenken: War es in mir grau und nebelig, lag auch auf dem Wasser ein feiner Dunst, der kaum das klare Nass darunter erkennen ließ. Herrschte in mir Frühling und Sonnenschein, so auch über dem See. Ich weiß, das klingt herbeigedichtet, künstlich, die Natur machte doch, was sie will. Wahrscheinlich waren wir eine Symbiose eingegangen, wir beeinflussten und spiegelten uns gegenseitig.

Die meisten dieser Seelen neben mir waren schon sehr alt, ohne große Einleitung begannen sie vom Damals zu erzählen, als die Bilder auf dem Wasser ihres Innersten noch heller, bunter, lebendiger waren, als die Gegend vom See lebte.

Ihre Worte wurden in mir zu riesigen, dunklen Drachen, die Feuer und Rauch aus ihren Rachen spien und die Ufer schwarz färbten, im Sommer die Wiesen, im Winter den Schnee; grauschwarz geriet die Landschaft ihrer Worte. Vielleicht lag dies aber auch daran, dass ich mir Vergangenheit grundsätzlich wie einen einzigen Schwarzweißfilm vorstellte.

Wer wusste das schon.

Diese Stunde am Wasser ist für mich der Opa, den ich nie hatte, ich lausche den Wellen und dem Wind und den Bäumen, den Vögeln und den Fischen und den Menschen, und sie erzählen mir ihre Geschichten von damals und heute. Wir schweigen und schauen, und ganz leise, bis nächste Woche, verabschieden wir uns dann.

Bis bald, knirscht der griesgrämige Kies lächelnd, und wartet geduldig auf seinen nächsten Gast.

Mut zur Poesie

Wir alle können schreiben. Wir alle tragen Poesie in uns, wir müssen sie nur zulassen. Müssen uns nur trauen, die eigenen inneren Bilder in Worte zu fassen. Wir alle haben etwas zu sagen, uns mitzuteilen, wir Menschen sind kreative Wesen.

Wenn wir das, was in unserem Herzen ist, nach außen durch unsere Finger aufs Papier fließen lassen, wenn wir uns trauen, uns diesen inneren Bildern und Gefühlen zu stellen, wird künstliche Intelligenz nie eine wahre Konkurrenz für uns sein. Wenn wir nach meiner Definition von Poesie gehen, d.h. Poesie als Sprache des Herzens, der Seele, und Kunst als Mittel, das diese innere Poesie veräußert, müssen wir uns darum keine Gedanken machen.

In meinem letzten, von mir angeleiteten Workshop habe ich erkannt, dass ein Hindernis für viele das Denken ist. Einer meiner Schreibtipps lautet, dass wir aufhören müssen zu denken, den Verstand zu benutzen, und in den Körper, ins Herz gehen müssen. Das ist erstmal schwierig, wenn man es noch nicht gewohnt ist, und genau da setze ich aber mit meiner Theorie und vor allem den Übungen an.

Mein Ziel ist es übrigens, jeder Person in meinem Workshop (und freilich auch hier in meinem Blog) zu zeigen, dass sie schreiben kann; dabei möchte ich weg von jeder Bewertung, jedem Vergleich, der massiv am Schreiben hindert.

Ich will zeigen, dass wir alle unsere eigene Welt, unser eigenes Stück Kosmos in uns tragen, und mit dieser Einzigartigkeit immer etwas zur großen Erzählung dieser Welt beizutragen haben.

Schreiben hilft, mit uns und unserer Umwelt achtsamer umzugehen, bewusster zu werden, auch für die eigenen Gefühle und also sich selbst; Schreiben hilft gegen das Chaos im Kopf, wir lernen dabei unsere Stimme kennen und schätzen.

Wenn wir alle ein Stück Kosmos in uns tragen, bleibt nur die Schlussfolgerung: Niemand kann sich selbst und damit auch andere zu 100 Prozent kennen, niemand kann andere für den klitzekleinen Teil verurteilen, den sie uns zeigen, und das mit dem Vergleichen ist dann auch überflüssig.

Schön, oder? Bitte weitersagen!

[Halle, 11.3.2023]

Alle Weisheit der Welt

Ich kann alle Weisheit der Welt in diese Zeilen stecken und du kannst sie hundertmal lesen, doch wofür. Du kannst sie verstehen, aber nicht wahrhaftig sehen, denn nur wer selbst erlebt und eigene Erfahrungen macht, weiß, was sie bedeuten.

Du kannst alle Bücher der Welt gelesen haben, aber solange du nicht lebst, d.h. dich selbst der Welt dort draußen aussetzt, durch Höhen und Tiefen gehst, verletzt wirst, heilst, liebst, weinst, kann kein Buch der Erde dir echte Weisheit verleihen.

Du magst alle diese Worte verstehen, sie ergeben Sinn, sind logisch oder schön, du kannst sie wiedergeben. Aber solange du nur fremde Worte wiedergibst und nicht deine eigenen, solange bleibst du an der Oberfläche und ahnungslos. Finde deine eigenen Worte für deine eigenen Erlebnisse, Empfindungen, Entdeckungen.

Du liest, um nicht alles selbst erleben, um nicht jeden Fehler selbst machen zu müssen. Doch einige musst du selbst machen, um wirklich daraus zu lernen.

Du kannst Dingen, die du fürchtest, lange aus dem Weg gehen – eines Tages holen sie dich jedoch ein, und sei es im nächsten Leben. Du wirst so lange daran leiden, sie werden dich so lange verfolgen, bis du stehen bleibst und dich ihnen stellst. Sprich mit ihnen und vielleicht erkennst du ja, dass ihr Schatten größer als sie selbst war.

[Halle/Saale, 2.1.23]

Ozeantage

Meine Familie, mein Freund und ich sitzen am Rand eines riesigen Beckens. Über dem Wasser ist ein Netz gespannt, in dessen Mitte ein großes Loch. Darunter, im Wasser, wimmelt es nur so an Tieren, und zuerst erkenne ich nicht, was es ist, doch dann sehe ich: Es sind tausende von Kraken in allen Farben und Größen. Abertausende Arme und Saugnäpfe. Bei diesem Anblick überkommt mich dieses seltsame Gefühl wie immer, wenn ich am Rand eines Abhangs stehe und mir ganz tief drin schwindelig und kalt zugleich wird. Mein Herz hört auf zu schlagen und schlägt zu laut – ist das der Tod, der seine Hand um mein Herz legt?

In der nächsten Szene schwinge ich plötzlich an einer der langen Lianen über dem Becken von einer Seite zur anderen. Muss ich jemandem beweisen, wie cool und furchtlos ich bin? Ach Lena. Die Lianen sind sehr elastisch, es macht beinahe Spaß. Beinahe, wären da nicht die falschen Lianen aus getrockneten Kraken: Wer sich aus Versehen an sie klammert, stürzt unweigerlich ins Becken und wird gefressen; wer Glück hat, landet auf dem Netz, das immer noch nah genug an Oktopussaugnäpfen und -schnäbeln ist. Oder wäre da nicht die Gefahr, über dem Becken hängen zu bleiben, weil man den Absprung verpasst und die Liane keinen Schwung mehr hat.

Tatsächlich bin ich aber richtig gut darin; von einer Liane zur nächsten hüpfe ich und winke ich den anderen zu. Ich glaube, es funktioniert: Ein bisschen haben sie Angst um mich, aber hauptsächlich finden sie mich richtig cool und sind stolz auf mich. Warum ist mir das immer wieder so unglaublich wichtig?

Jetzt reicht es mir und ich schwinge eine lange Liane so, dass ich wieder lässig auf der Tribüne neben meinem Freund lande. Von Kraken habe ich genug gesehen, lasst uns zu den Walen gehen.

Es sind „Ozeantage“ in meiner Stadt.

[Halle, 14.10.2022]

Zum Problem der Textanalyse

Von Anfang an lernt man es, und lernt man es falsch (zumindest ist es mir so ergangen). Jede Art von Text, ob lyrischer, dramatischer, prosaischer, muss in seine Einzelteile zerlegt werden und darf nur auf eine Lesart gelesen werden – derjenigen, die dem Bewertenden gefällt. Wer also andere Bilder mit den zu analysierenden Worten verbindet, hat den Text nicht „verstanden“. Dabei ist das genau der Ansatz, der Menschen das Lesen verdirbt! Wer Kindern und Jugendlichen ein Muster aufzwingt und sie unter Druck setzt, „richtig“ zu lesen, verdirbt es ihnen (ist natürlich nicht nur beim Lesen der Fall).

„Verstehen“, also mit dem Verstand eine Sache und in diesem Fall einen Text zu erfassen, wird diesem nie gerecht werden, insofern es sich um einen literarischen handelt. Es gibt natürlich noch viele andere Arten von Texten, wie den wissenschaftlichen, die vor allem mit dem Verstand geschrieben und darum auch nur über diesen zu begreifen sind.

Literarische Texte aber müssen im Leser resonieren, sie müssen etwas in ihm zum Schwingen bringen, einen Nachhall erzeugen, ja bisweilen sogar ein Erdbeben, und allein darum sollte es bei einer Textbesprechung gehen: Spricht mich der Text an und inwiefern? Welche Bilder vermittelt er, mit welchen erzähltechnischen Mitteln tut er das? Kunst und damit auch das Schreiben ist subjektiv und kann entweder als schön oder hässlich, ansprechend oder abstoßend, gut oder schlecht empfunden werden.

Die in der Textanalyse leider zu beliebte Frage, „was der Autor uns damit sagen will“, kann und sollte niemals beantwortet werden müssen. Denn es gibt nicht die eine Antwort (wenn es sich nicht gerade um einen Text mit Agenda handelt). Der Autor hat das, was sich in ihm zusammenbraute, überfließen lassen auf Papier. Ohne an eine Leserschaft zu denken (wie gesagt, das ist das Ideal).

Die Bilder aus seinem Innersten stehen übersetzt in uns bekannte Worte Schwarz auf Weiß. Der Leser nun geht mit allen seinen eigenen Bildern, seiner eigenen Welt, an den Text heran. Ihn lesend, entfalten sich aus den Worten eigene Bilder in seinem Innern. Sie lösen Erinnerungen aus, an Erlebnisse des Lesers, an Erfahrungen, Menschen, alle Arten von Sinneseindrücken. Wenn jeder Mensch eine eigene Welt ist, wie könnte man sich jemals anmaßen zu wissen, was genau ein anderer Mensch mit seinen Worten „sagen wollte“, was er dabei fühlte, dachte? Selbst wenn er es noch so explizit tut, kann es sich dabei um eine Metapher, ein Wunsch- und Traumbild handeln und rein fiktiv sein. Es ließe sich wenn überhaupt fragen: Was sagt dieser Text mir selbst? Was ziehe ich daraus? Welche Stellen sprechen mich an und warum ist das so? Wieso gefällt mir dieser Text nicht, was daran stößt mich ab?

Es ließe sich daraus ein langer Essay schreiben, aber ich mache hier erstmal Pause. Ich habe das Thema zu meiner Doktorarbeit gemacht, wo ich dafür plädiere, auf den Text allein einzugehen, ohne ihn nur unter einem Theoriefilter zu sehen und ihm so seines Zaubers zu berauben. Natürlich ist das ein Ideal, ganz frei von Filtern sind wir nie, aber den Versuch ist es wert.

(Halle, 20.03.22)

Nackt

Mein Kern allein ist unveränderlich.

Die Frage bleibt, ob wir uns auch aller unserer Identitäten entledigen können, für die ich einmal die Metapher der Klamotten benutzt habe.

Wir kleiden uns in unterschiedliche Kleidungsstücke, um uns zu schützen, zu wärmen, zu verstecken, dazuzugehören. Den meisten Menschen ist gar nicht mehr bewusst, dass sie tausende Schichten tragen, ihr Innerstes ist nicht mehr sicht- und spürbar.

Würden wir uns Schicht um Schicht entledigen, uns entblößen, wäre das wohl für die meisten Menschen (oder alle?) unerträglich, sich gar in ihrer baren Nacktheit zu sehen.

Manche der Kleidungsschichten liegen uns so starr an, sie sind mit uns verwachsen, dass wir uns ohne sie nicht mehr denken können, ja sogar unser Denken darüber ausrichten.

Würden wir uns alle ohne Klamotten denken, also sagen wir mal, wir stellten uns alle gegenseitig nackt vor, so sähen wir uns in unserer Zerbrechlichkeit, unserer wahren Natur. Würden sich die Menschen selbst dann noch gegenseitig verurteilen, ab- und aufwerten? Wenn wir das wahre Gesicht, die wahre Gestalt des anderen sähen, würden wir dann anders mit ihm umgehen? Wie würden wir uns verhalten bar jeglichen Schutzes?

Fakt ist, wir brauchen Kleidung, denn ohne sie wird uns kalt, und es ist in unserer Welt nun mal Konvention, mindestens ein Stück Stoff über unseren intimsten Körperzonen zu tragen. (Was ist mit FKK-Bereichen?)

Wir brauchen die anderen in Identitäten gehüllt, um auch uns besser einordnen, sich gegenüber anderen abgrenzen oder zugehörig fühlen zu können.

Vermeintlich hatte ich mich schon jeglicher Kleidung entledigt. Immer wieder aber entdecke ich ein Stück Stoff an mir, das bestimmte Stellen verdeckt, sie beschützt oder versteckt und mich vom Nacktsein abhält.

Nacktsein kann ich nur mit Dir. 
Du siehst mich ganz,
auch ganz verhüllt,
vor Dir trau‘ ich mich zu entkleiden,
ohne alles steh‘ ich da.

Du nimmst mich,
wie ich bin.

Allein Dir blick‘ ich in die Augen,
dem Zugang zum Wesen unter
all den Hüllen.

Die Pfütze

Folgende Geschichte hat sich eines Nachts tatsächlich so zugetragen, obwohl sie so unwirklich klingt, dass wir es selbst kaum glauben können. Weil wir uns so absolut nicht erklären können, wie diese Situation entstand, sind wir mehr als dankbar für jegliche eurer Theorien. Doch lest zunächst selbst:

Plötzlich befand ich mich auf Holz. Dunkel war’s, und neben mir hingen schmale Oberkörper nebeneinander gereiht an Haken. Völlig perplex bemerkte ich erst jetzt, dass ich nicht alleine war. In mir stand einer der „Menschen“ genannten Lebewesen dieses Planeten und bewegte sich nicht.

Seltsam war: Ich hatte wirklich absolut keine Ahnung, wie ich hierher gekommen war. Ich war schließlich eine Pfütze Wasser, und das tauchte nicht einfach so aus dem Nichts auf. Die Menschen holten mich aus ihren Leitungen, sie tranken mich aus Gefäßen. Nirgendwo aber war eines davon in Sicht, nirgendwo war eine Spur Wasser, die uns in Richtung der Quelle geführt hätte, von der ich entstammte. Die Tür hinter dem Menschen war geschlossen, es war Nacht.

Auf einmal ward es Licht. Ich blinzelte und breitete mich vor Schreck noch ein wenig weiter über den Boden aus.

Ein zweiter Zweibeiner kam um die Ecke. Riesig und furchterregend. Wie nach monatelangem Winterschlaf rieb er sich verwundert die Augen. Er machte Laute, die offensichtlich in demjenigen etwas bewegten, der in mir stand.

⁃ Was machst du da, mein Sohn? Du bist ja völlig desorientiert!

⁃ Ich bin nicht desorientiert.

Kam monoton aus dem Mund des Desorientierten.

Endlich stieg der Mensch aus mir heraus. Erleichtert schwappte ich ein wenig hin und her, meine neue Bewegungsfreiheit feiernd. Doch nicht lange währte dieser Moment der Freude. Der winterschlafende Zweibeiner holte einen meiner Feinde – einen riesigen Lappen – und warf ihn auf mich.

Noch bevor ich das Rätsel meiner Herkunft gelöst hatte, war mein Leben vorbei, zumindest in dieser Form. Der Stoff nahm mich auf und ich ging mit, löste mich in Abermillionen Teilchen auf, wirbelte die Kanaäle hinunter und bin jetzt, wo ich dies hier erzähle, schon längst in anderer Gestalt, doch das ist eine andere Geschichte.

Wirbelsturm

Die alten Erzählungen haben ausgedient. Sie wissen es schon und halten sich deshalb mit aller Kraft an den Menschen fest.

Die alten Erzählungen haben Jahrhunderte überlebt, was kann daran also schlecht sein?

Das Alte zerbröckelt, Zeit für Neues.

Wir haben sie durchschaut, sie machen uns nichts mehr vor.

Die verkrusteten, starren Strukturen aufzubrechen kostet viel Kraft, es ist die Herausforderung unserer Zeit. Menschen haben alle paar Jahrhunderte ihr Denken überdacht, exakt in einem solchen Wirbelsturm befinden wir uns gerade.

Nach dem Unwetter werden wir aufräumen, für neue Ordnung sorgen müssen, denn alles, was dem Sturm nicht standhalten konnte, was gefallen ist oder ausgerissen wurde, muss beiseite geschafft werden.

Die Luft wird frischer, reiner, nicht mehr abgestanden sein, endlich wieder tief einatmen, endlich wieder klare Sicht. Dann werden wir aufstehen, den Staub und Dreck aus unseren Herzen, Köpfen und Klamotten klopfen und zusammen etwas aufbauen, das dem nächsten Sturm standhält.