Freiheit, das klingt gut und nett. Herr und Frau Freiheit, von und zu. Was machen die beiden? Sie liegen auf einem Steg am Chiemsee, morgens um halb sechs, eingewickelt in ihren warmen Schlafsack, der Blick wandert von den noch in grauen Dunst gehüllten nahen Bergen hin zu den ersten Sonnenstrahlen, die ihr müdes Gesicht wach kitzeln. Sie springen nackt in einen See in Halle, schwimmen ohne jegliche Last in diesem klaren, kühlen Nass, keine Menschenseele ist in der Nähe – und wenn doch, egal. Sie strecken ihren Kopf aus dem Fenster eines fahrenden Zugs, ihre Haare wehen im Fahrtwind, sie tanzen mit nackten Füßen auf dem staubigen Boden eines Festivals zu Musik, deren Bass ihr neuer Herzrhythmus ist und sie in der Seele berührt, sie laufen durch einen wunderschön aussehenden und duftenden Wald, feine Sonnenstrahlen berühren den moosigen Boden einer Lichtung, jeden Moment könnte ein Fabelwesen oder doch nur ein zartes Rehlein erscheinen, kein Geräusch außer das ferne Grüßen eines Kuckucks.
Frau
Freiheit genießt diese Momente, in denen sie ganz sie selbst sein
kann, was sie daran merkt, dass sich in ihrem Herzen ein wohliges
Gefühl der Wärme ausbreitet, dass sie nur noch lachen und grinsen
kann, dass sie es am liebsten hinausschreien will, manchmal
hinausstöhnen, das reinste Glück.
In
vielen Momenten in ihrem Leben nämlich fühlt sie sich in ihrer
natürlichen Art, welche da ist frei zu sein, eingeschränkt, ja gar
bedroht.
Sie
fragt sich denn auch, wie manche Menschen von sich behaupten können,
ihre Kinder zu sein, und doch sind sie es noch längst nicht. Um ihr
Kind zu werden, bedarf es zunächst einer gewissen Veranlagung. Sie
hat sich einige Dinge überlegt, derer es bedarf, da sie ja immerhin
die Hüterin zur nächsten Stufe ist, ein Geheimnis, das viele nur
vom Hörensagen kennen und die meisten erst nach vielen Leben
erreichen.
Eine
weitere Voraussetzung zur Adoption ist, dass sich der Interessent mit
seinem tiefsten Innern auseinandersetzt: mit allem, was ihn geprägt
hat, was ihn ausmacht, jegliche Muster, Verhaltens- und Sichtweisen,
jegliche Ideologien, jegliche Post-its am Spiegel seiner Seele. Hat
er sich von diesen befreit, kann er erkennen: filterlos.
Derweil
gibt es jedoch oft diejenigen, die zu Frau Freiheit kommen, in ihrem
unverrückbaren Glauben an ihre Filterlosigkeit, ein in Stein
gemeißeltes Selbstbewusstsein, und fordern ihre Adoption ein. Oft
sind dies diejenigen, die auf einem Auge blind sind, ihr Blick
getrübt für das, was vor ihnen – oder besser – in ihnen
stattfindet. Sie schaffen es bis zu einem riesigen Vorhang, der ihnen
vorgaukelt, die Tür, der Zugang zu sein, und sie
wähnen sich am Ziel. Sie lassen sich vor dem vermeintlichen Tore
nieder, wartend auf ihre Zutrittserlaubnis, die ihnen ihrer Meinung
nach gewiss sei. Doch es ist ein Vorhang, und dahinter ist noch
einmal ein steiniger und langer Weg, ehe man es zum eigentlichen Tor
schafft. Zu diesem hat nur Frau Freiheit Zugang, nur sie besitzt den
Schlüssel, und nur sie erkennt ihre wahrhaftigen Kinder. Und nur
diese lässt sie hinein.
(Halle, 04.04.2019)