Spiegelung

Der Kies knirschte mit seinen kantigen Zähnen. Schon wieder ein weiterer Besucher, schon wieder einer, der die flachsten Teile seines Selbst in einer raschen Drehung von hinten nach vorne, den Ellenbogen nach innen verdreht, die Hand mit dem Stein nach oben zeigend, möglichst oft über die stille Wasseroberfläche springen lässt.

Keine Sorge, sprach ich zu ihm.

So wie jede Woche? fragte er mich.

Voraussichtlich, nickte ich.

Wir waren beide keine Freunde von überflüssigen Worten.

Mit größtmöglicher Behutsamkeit überquerte ich ihn barfuß und setzte mich ans Ufer des Sees, der zehn Minuten mit dem Fahrrad von meiner Wohnung entfernt und für eine Stunde nun mein Zuhause war.

Wolkenlos der blaue Himmel über dem Wasser. Die Septemberwelt spiegelte sich darin, und je nach Wetterlage, je nach Einfluss von außen, kräuselte, überschlug und trübte sich die Oberfläche, die doch ansonsten so blitzblank sauber vor sich hin glitzerte.

Es ist dies ein Phänomen des Wassers, das doch eigentlich keinerlei Farbe besitzt, jedes Blau oder Grün oder Braun anzunehmen, das sich in ihm spiegeln will oder das sich ungefragt mit diesem vermischt. Hinzu kommen die Jahreszeitenfarben der Blätter, noch an den Bäumen oder auf der Wasseroberfläche schaukelnd gleich den Booten, die die Spannung für einen kurzen Moment durchtrennen.

Von Zeit zu Zeit schnappte ein Fisch nach einer Fliege. Vielleicht machte ihm auch das Springen Spaß oder er musste sich seines Daseins vergewissern, indem er für einen kurzen Moment sein gewohntes Umfeld verließ und nach Luft schnappte.

Wer wusste das schon.

Ich war die Letzte, die ihm ein Selbst-Bewusstsein absprechen würde. Manchmal zweifelte ich sogar an, dass wirklich ich außerhalb des Wassers war, und nicht der Fisch. Wir werden es wohl erst wissen, wenn wir am Ende auf dem Trockenen liegen, all dem entzogen, was wir vorher als Selbstverständlichkeit ansehen.

Derlei Gedankenexperimente und -höhenflüge leistete ich mir einmal in der Woche. Auszubrechen aus dem Hamsterrad des gedanklichen Alltags, das war es, was mir der See versprach – und gebrochen hatte er sein Wort noch nie.

Manchmal führte ich Gespräche mit einem der Reiher, die am Ufer entlang staksten, oder einem der Frösche, die mich mit ihren großen Augen und breiten Mäulern zuerst misstrauisch anglupschten und schließlich in breitem Vorarlberger Dialekt raunzten, was ich denn da eigentlich die ganze Zeit so dumm vor mich hin glotze. Richtig ernst meinten sie das allerdings nie, es war mehr das „leben und leben lassen“, um das sie fürchteten, und es daher mit ein paar liebevoll-groben Quaks sicherstellten. Mit der Zeit hatte sich eine Waffenruhe zwischen uns etabliert wie zwischen zwei Stammtischbrüdern, die einmal in einem etwas lauteren Wortgemenge ihre Grenzen festgesetzt hatten und fortan friedlich nebeneinander ihr wortloses Trinken pflegten.

Bisweilen setzte sich eine andere Menschenseele zu mir, das gleiche Bedürfnis nach der absoluten Stille des Wassers hegend, welche sich in gleichmäßigem Rhythmus tief in dein Herz schwappt. Der See spiegelte alle meine Launen wider, das war verrückt, das konnte ich mir gar nicht ausdenken: War es in mir grau und nebelig, lag auch auf dem Wasser ein feiner Dunst, der kaum das klare Nass darunter erkennen ließ. Herrschte in mir Frühling und Sonnenschein, so auch über dem See. Ich weiß, das klingt herbeigedichtet, künstlich, die Natur machte doch, was sie will. Wahrscheinlich waren wir eine Symbiose eingegangen, wir beeinflussten und spiegelten uns gegenseitig.

Die meisten dieser Seelen neben mir waren schon sehr alt, ohne große Einleitung begannen sie vom Damals zu erzählen, als die Bilder auf dem Wasser ihres Innersten noch heller, bunter, lebendiger waren, als die Gegend vom See lebte.

Ihre Worte wurden in mir zu riesigen, dunklen Drachen, die Feuer und Rauch aus ihren Rachen spien und die Ufer schwarz färbten, im Sommer die Wiesen, im Winter den Schnee; grauschwarz geriet die Landschaft ihrer Worte. Vielleicht lag dies aber auch daran, dass ich mir Vergangenheit grundsätzlich wie einen einzigen Schwarzweißfilm vorstellte.

Wer wusste das schon.

Diese Stunde am Wasser ist für mich der Opa, den ich nie hatte, ich lausche den Wellen und dem Wind und den Bäumen, den Vögeln und den Fischen und den Menschen, und sie erzählen mir ihre Geschichten von damals und heute. Wir schweigen und schauen, und ganz leise, bis nächste Woche, verabschieden wir uns dann.

Bis bald, knirscht der griesgrämige Kies lächelnd, und wartet geduldig auf seinen nächsten Gast.

Regen

Es ist soweit. Mein Wolkenheim schmeisst mich hinaus, rausraus, ihr Süssen, Zeit wirds! Bisschen angst und bibberbange ist mir ja schon, weil schau mal auf die vielen Meter bis nach unten.

Es ist mein erstes Abenteuer als neugeborener Tropfen, Betonung auf neugeboren, denn diese Reise habe ich schon unendlich oft hinter mir, ich erinnere mich nur nicht dran. Ist auch besser so, mit leerem Gedächtnis wiedergeboren zu werden, denn wie schrecklich wäre es, sich schon von vornherein an alles zu erinnern – wir erleben ja nicht nur Schönes – und nichts wäre mehr neu und aufregend. Lauter griesgrämige, alte Regentropfen – furchtbare Vorstellung.

Also, mein erstes Mal, jetzt, nervöses Blubbern überall, ich stehe am Absprungbrett. Meine Familienmitglieder kichern, jauchzen, umarmen sich, schieben mich nach vorne bis an die Kante.

Mit dem nächsten Schritt gibt es kein Zurück mehr, der nächste Schritt ist der, vor dem ich am meisten Angst habe. Ich sage es Ihnen, der Moment zwischen Stehen und Fallen, zwischen der Sicherheit und dem Ungewissen, ist einer dieser Momente, die nicht in Worte zu fassen sind. Die zu kurz sind, um ins Gedächtnis einzugehen. Den nächsten Schritt gehen wir immer irgendwann, oft nur nicht in vollem Bewusstsein, so nebenbei.

Aber was red ich. Ich bin ein Tropfen Wasser, ich bin, dann nicht mehr, und jetzt ein anderer. Los geht’s.

Im Fallen scheinen mal Stunden, dann nur Sekunden zu vergehen. Kalt weht der Wind von rechts, bläst mich, wohin er will, im Augenwinkel bunte Lichter. Ich traue mich endlich und schaue nach unten. Weit ist es nicht mehr, der bunte Flickenteppich von gerade stellt sich als eine Welt seltsamer Formen und Lebewesen heraus. Sie werden größer, ich kleiner, und als ich endlich am Boden auftreffe, ist der Aufprall weich, sanft, da sind viele aus meiner Wolke, aber auch neue Gesichter.

Große Aufregung. So manches hat man uns von der Erde und den vielen Wegen erzählt, die unser Leben nehmen kann. Was passiert mit mir? Werde ich versickern und einer Pflanze beim Wachsen helfen? Fließe ich mit meiner Familie in einen See, ins Meer? Da würde ich gerne mal hin, mich im großen Ganzen auflösen, gemeinsam Urgewalt sein, Disco Disco Party Party. Stillstand gibt es nicht, es geht weiter, weiter, auf und ab und im Kreis.

Ganz leis’ sag ich „adieu“ und laufe los, meinem Abenteuer entgegen.

[Halle, 25.03.23]

Sinn dieser Schreibübung ist u.a. der Perspektivwechsel, aber auch das Fließenlassen. Tipp: Nehmt ein Wort, wie hier z.B. „Regen“, und schreibt eine Geschichte/ ein Gedicht (was eben „herausfliesst“) aus einer anderen Perspektive als der Euren.

Zimmerservice

Er servierte mir seinen eigenen Kopf auf einem silbernen Rollwagen.

Gerade war ich dabei, mich in diesem seltsamen, mit dunklem Holz verkleideten Hotelzimmer einzurichten, als eine Tür aus dem Nichts aufschwang. Herein tanzten und räkelten sich nackte Frauen. Ihre Bewegungen verdeckten zunächst das, was sie in ihrer Mitte ins Zimmer schoben. Ich erschrak kurz, und doch war ich positiv überrascht ob der Mühe, die er sich gab.

Da lag auf einem Silbertablett auf einem silbernen Rollwagen, auf dem normalerweise in Hotels das Essen aufs Zimmer geliefert wird, der Kopf jenes Typen, den ich eine Stunde zuvor kennengelernt hatte.

Ich war mit meiner Familie unterwegs gewesen und meine Oma hatte Hunger gehabt. Das war gefährlich, denn wenn sie in Unterzucker kam, ging es ihr gar nicht gut. Es ging ihr sowieso nicht mehr gut. Im Traum davor hatte sie gerufen, sie sei eigentlich ganz froh, jetzt bald sterben zu dürfen.

Da stand ich also an einer Theke, es war eine Mischung aus Metzgerei und Bäckerei inmitten eines Volksfestes, und bestellte eine Breze, am besten mit Butter, wenn‘s geht. Der charmante – und ich muss zugeben, wirklich gutaussehende – Verkäufer gab mir eine große Scheibe Leberkäs dazu und reichte mir den Teller.

Geht aufs Haus! Sagte er und zwinkerte mir zu. Den Leuten neben mir schenkte er ihr Essen ebenfalls. Ich hätte daraus ja keine große Sache gemacht. Vielleicht hatte er die Not meiner Oma bemerkt, vielleicht war er einfach gut gelaunt, vielleicht gefiel ich ihm. Das Paar neben mir flüsterte: Da hat sie den Besitzer Altenburg gleich selbst erwischt, und wir haben auch was davon!

Das war also der Besitzer dieses Komplexes. Mitte 30, mit einem großen Selbstbewusstsein, was ich sehr anziehend finde, dunklen Locken und Dreitagebart. Er kam hinter der Theke hervor und ich dachte schon, er spricht mich gleich an. Doch er ging geradewegs zu meiner Familie, begrüßte meinen Vater und meinen Bruder mit Handschlag, machte eine leichte Verbeugung in Richtung meiner Mutter und meinen Großeltern. Natürlich kannten die sich, er war immerhin Besitzer einer Brauerei in der Gegend.

Er strahlte mich an. Ach, das ist eure Tochter? Wir kennen uns noch gar nicht! Thomas Altenburg mein Name, freut mich! Er reichte auch mir seine kräftige Hand, in seinem Blick eine Mischung aus Schalk und Begehren. Nein, das klingt zu billig. Es war vielmehr das Wissen, das uns etwas verband, dass uns hier und jetzt etwas zusammengeführt hatte. Klingt schon wieder zu klischeehaft, aber so war’s eben, was soll ich sagen. Wenn’s prickelt, dann prickelt’s. Ist es nicht schön, wenn es manchmal ganz kitschig wird? Wenn man seine eigene Hollywoodkomödie lebt?

Er verabschiedete sich, dringende Geschäfte.

Fragen Sie mich nicht wieso, aber ich musste daraufhin in das Hotel nebenan einchecken. Vielleicht war meine Familie weitergefahren, oder ich hatte hier zu tun. Die Beliebigkeit der Träume.

Ein wenig geschockt war ich schon, dass man mir ein Zimmer im Erdgeschoss zugeteilt hatte, in direkter Nähe zum Vergnügungssaal, in dem ich ältere Herrschaften zu Schlagermusik Standard tanzen sah. Aber es war nur für eine Nacht, und ich hatte sowieso das Gefühl, dass das hier Absicht war. Dass hier jemand noch Pläne mit mir hatte. Und irgendwie wünschte ich es mir auch.

Dann kam dieser Zirkus aus Frauenleibern und seinem Kopf herein. Ich betrachtete ihn amüsiert. Seine Augen blickten mich an. Willkommen in meinem Hotel, sagte er ein wenig blechern. Er zwinkerte mir zu.

(Halle, 13.01.2022)

Die Pfütze

Folgende Geschichte hat sich eines Nachts tatsächlich so zugetragen, obwohl sie so unwirklich klingt, dass wir es selbst kaum glauben können. Weil wir uns so absolut nicht erklären können, wie diese Situation entstand, sind wir mehr als dankbar für jegliche eurer Theorien. Doch lest zunächst selbst:

Plötzlich befand ich mich auf Holz. Dunkel war’s, und neben mir hingen schmale Oberkörper nebeneinander gereiht an Haken. Völlig perplex bemerkte ich erst jetzt, dass ich nicht alleine war. In mir stand einer der „Menschen“ genannten Lebewesen dieses Planeten und bewegte sich nicht.

Seltsam war: Ich hatte wirklich absolut keine Ahnung, wie ich hierher gekommen war. Ich war schließlich eine Pfütze Wasser, und das tauchte nicht einfach so aus dem Nichts auf. Die Menschen holten mich aus ihren Leitungen, sie tranken mich aus Gefäßen. Nirgendwo aber war eines davon in Sicht, nirgendwo war eine Spur Wasser, die uns in Richtung der Quelle geführt hätte, von der ich entstammte. Die Tür hinter dem Menschen war geschlossen, es war Nacht.

Auf einmal ward es Licht. Ich blinzelte und breitete mich vor Schreck noch ein wenig weiter über den Boden aus.

Ein zweiter Zweibeiner kam um die Ecke. Riesig und furchterregend. Wie nach monatelangem Winterschlaf rieb er sich verwundert die Augen. Er machte Laute, die offensichtlich in demjenigen etwas bewegten, der in mir stand.

⁃ Was machst du da, mein Sohn? Du bist ja völlig desorientiert!

⁃ Ich bin nicht desorientiert.

Kam monoton aus dem Mund des Desorientierten.

Endlich stieg der Mensch aus mir heraus. Erleichtert schwappte ich ein wenig hin und her, meine neue Bewegungsfreiheit feiernd. Doch nicht lange währte dieser Moment der Freude. Der winterschlafende Zweibeiner holte einen meiner Feinde – einen riesigen Lappen – und warf ihn auf mich.

Noch bevor ich das Rätsel meiner Herkunft gelöst hatte, war mein Leben vorbei, zumindest in dieser Form. Der Stoff nahm mich auf und ich ging mit, löste mich in Abermillionen Teilchen auf, wirbelte die Kanaäle hinunter und bin jetzt, wo ich dies hier erzähle, schon längst in anderer Gestalt, doch das ist eine andere Geschichte.

Der Singvogel und das melancholische Mädchen

Auch heute kam sie. Ihre traurigen Augen nahmen Platz auf der Bank unter seinem Baum. Sie blickte sich aufmerksam um, ob auch ja nicht zu viele Menschen unterwegs waren, die sie hier in ihrem Alleinsein unterbrachen. Oft saß sie stundenlang da und genoss die Stille; der Singvogel war sich sehr sicher, dass sie ihm dann lauschte. Manchmal las sie ein Buch, in dem sie mit einem Bleistift für sie wichtige Sätze markierte. Es war jedes Mal erstaunlich, welche Wirkung diese Stunden auf der Bank hatten. Natürlich war dafür auch sein Gesang verantwortlich, da war der Vogel ganz selbstbewusst. Immerhin lächelte sie sehr oft in seine Richtung, besonders wenn er sich ins Zeug legte und er ihr all jene Töne schenkte, die er für besondere Momente in sich aufbewahrt hatte. Als verstünde sie, was er ihr zurief, lehnte sie sich genießend zurück und nahm alles in sich auf.

Manchmal flog er ihr ein Stück des Weges nach, den sie nach ihrer Zeit im Park ging. Er konnte dann sehen, wie sie sich ein wenig leichter bewegte, die Erdanziehung, die Kraft, die sie an manchen Tagen nach unten zog, hatte ein wenig nachgelassen. Er wäre ihr gerne mit nachhause gefolgt, hätte gerne mit ihr gegessen, ihr ein Gute-Nacht-Lied gesungen, an ihrem Bett gewacht. Aber das war nicht möglich, das hatte er beobachtet. Die Zweibeiner bestanden darauf, dass Lebewesen wie er nicht in ihre viereckigen, steinernen Nester kamen, sie fuchtelten dann wild aufgeregt mit irgendwelchen Gegenständen in der Luft herum, damit der Störenfried ihr Nest wieder verließ. Manche allerdings gab es, die seinesgleichen in kleine Gitterstabkästen sperrten, um sich an ihnen oder auch ihrer Kraft zu ergötzen, die es ihnen ermöglichte, kleinere Lebewesen ihrer Freiheit zu berauben. Der Singvogel glaubte ja, dass viele ihn um seine Fähigkeit des Fliegens beneideten und seinesgleichen deshalb einsperren, ihre Flügel stutzen und besitzen wollten. Warum sonst sollte man einem Lebewesen genau das rauben, was das Wesen seiner Natur war?

Seiner Liebe nun wäre dies jedoch nie in den Sinn gekommen. Sie liebte alle Lebewesen, da war er sich sicher, und vermutete darin den Grund ihrer Traurigkeit. Sie liebte sie so sehr, und war doch traurig ob der Getrenntheit, die zwischen den – vor allem zweibeinigen – Lebewesen bestand. Er spürte das, denn es ging ihm genauso. Er würde in diesem Leben immer nur Singvogel bleiben, keine Chance haben, mit ihr Worte zu wechseln. Doch das war auch nicht nötig, denn er konnte dafür so singen wie niemand sonst auf der Welt, und vielleicht war genau das seine Rolle, seine Lebensaufgabe.

Die Fühler des neuen Tags kitzelten ihn an seinen Federspitzen, was für ein herrlicher Morgen und Tag dies werden sollte. Er schüttelte sich und übte seine Stimme. Irgendwann, kurz nachdem die Sonne am höchsten stand, kam sie des Wegs, lächelte ihm zu und setzte sich. Und er sang für sie die Arie seines Lebens: Sei traurig, mein Mädchen, der falsche Zeitpunkt, der uns zusammenführte, wird uns auch wieder trennen. Sei nicht traurig, mein Mädchen, ich bin bei dir, jede Sekunde Tag und Nacht, alles ist verbunden, für immer.

(Essenbach, 19.04.2020)

Die Masken

Mir träumte heute wieder etwas äußerst Seltsames, und doch fühlt es sich so real an. Ich spüre noch meine Umhängetasche an der rechten Schulter, in der mir schwarzer Stoff und eine weiße Maske entgegenblitzt.

Ich bin auf dem Weg in den nächsten Raum, in dem mehrere dieser Masken verteilt werden, alle gegen einen bestimmten Preis, und von meinen zwei Geschwistern war ich die, die sie behalten durfte – mehr Geld hatten wir nicht. Um eine neue Technik soll es sich handeln, mit der man reisen kann, wohin man will, und die Maske auf deinem Gesicht verwandelt sich je nach dem, für welche Pille du dich entschieden hast. Die Frau, die den Verkauf regelt, die aber auch die Verwandlungen betreut, hat ein hartes, strenges Gesicht, ich habe sie noch nie zuvor gesehen, doch ist mir ihr versteinerter Blick vor Augen. Ich fühle mich wie auserwählt, denn noch haben nur wenige eine der Masken erhalten, hinter uns eine lange Schlange, neben uns am Fenster sitzen meine Brüder und auch mein Papa, der voll begeistert scheint und es so bald wie möglich selbst ausprobieren will. Bitte sehr, ich würde meine Maske ja abgeben, so heiß bin ich nicht darauf, Versuchskaninchen zu sein. Wenn es nur so leicht wär‘ mit diesen Träumen.

Uns Maskenträgern stehen mehrere Optionen zur Verfügung. Die meisten gehen einfach nur „online“, was auch immer das bedeuten mag; doch ist es wohl die einfachste und angenehmste Variante und ich bin vor lauter Angst versucht, ihnen gleichzutun. Es ist wie die Angst vor einem Horrortrip, weswegen ich chemische Drogen immer abgelehnt habe. Und jetzt verteilen sie Pillen, und ich muss mich entscheiden.

Eine andere Option ist die des „Surrealen“, so nennt es die Frau und neben mir befindet sich ein Mann schon genau in diesem Szenario, irgendwie kann ich sehen, was er erlebt, nur von außen, als stille Beobachterin. Er sitzt in einem Kanu, das aus einem einzigen Baumstamm besteht, und hinter ihm schwimmt ein ähnliches Gefährt, und darin erneut er selbst, mit weiß-roter Farbe um die Augen, er spricht mit seinem Spiegelbild in einer Sprache, die ich nicht kenne.

Zurück zu meiner Situation, ich bin an der Reihe. Ich verstehe nicht, was ich sage und wofür ich mich entscheide, doch die Frau nickt und weist mir mit schroffen Handbewegungen an, genau jetzt die Maske aufzusetzen. Den schwarzen Umhang habe ich mir nach dem Vorbild der anderen über die Schultern geworfen, er reicht fast bis zum Boden. Dazu trage ich mein rotes Kleid, es war ebenfalls in meiner Tasche, wozu das gut sein soll, frage ich nicht mehr. Ich nehme die Silikonmaske und führe sie an mein Gesicht, immer näher, sie wird langsam wärmer, und wie ein Saugnapf passt sie sich von selbst an meine Nase, meine Lippen, meine Stirn an, enger und enger, es brennt. Tief durchatmen, höre ich noch von außen, vielleicht aber auch in meinem Kopf, tief mit der Nase ein, mit dem Mund aus, nur keine Panik. Ich merke, wie sich meine Gesichtszüge verändern, ja mein ganzer Körper scheint sich zu verwandeln, einatmen, ausatmen, ein Sog, ein Strudel erfasst mich – und ich wache auf.

Ist das jetzt eine dieser Optionen?

(Halle, 23.01.2020)

Ein Gedankenspiel

Frei sein. Loslösen. Ich stelle mir vor, nicht von hier zu sein, sondern von einem anderen Planeten. Ohne Wörter für uns Alltägliches. Ohne Vorstellung, wie die Welt funktioniert, nur beobachtend.

Das erfordert enorme Kraft: Genau hinsehen, was für uns Menschen ganz „normal“ ist, was naturgegeben, was von uns gebaut, kultiviert, künstlich ist. Vergessen. Das Überflüssige vergessen. Alles.

Was sind gewisse Vorannahmen, die ich aufgrund meiner Erfahrung mache und mit der ich Dinge beschreibe? Was sehe ich nicht aufgrund meiner Erfahrung? Auf was lege ich besonderes Augenmerk?

Sehe und beschreibe ich manche Dinge so aufgrund meines kulturellen und sonstigen „Hintergrunds“? Aufgrund der Erzählungen, mit denen ich aufgewachsen bin?

Wie erlebe ich mit all meinen Sinnen – oder gar ohne sie? (Bei diesem Gedankenspiel gehe ich davon aus, dass der Ausserirdische die gleichen Sinne hat wie wir Erdenbewohner.) Teilweise fehlt mir der Wortschatz, um Dinge „exakt“ zu beschreiben, doch dann kommt die Poesie ins Spiel – beziehungsweise muss ich mit mir bekannten Wörtern das mir Unbekannte wiedergeben.

(Wird der Außerirdische verstehen, was Liebe ist? Was Ehe ist? Alle vom Menschen gemachten Regeln, Grausamkeiten, Zerstörungen seines eigenen Planeten?)

(Halle, 18.05.19)

Clown und Grau

Ich sitze im Café Riquet in Leipzig. Von meinem Fensterplatz im ersten Stock kann ich gut die vorbeihastenden Menschen unten auf der Straße beobachten. Heute hasten sie ein wenig langsamer, es ist Sonntag und, für Leipzigs Innenstadt, wenig los draußen. Eine Gruppe von ungefähr acht Menschen bleibt genau so stehen, dass ich sie gut betrachten kann. Sehen sie mich auch oder doch nur die Elefanten an der Hauswand? Touristen, vermute ich, denn wie einstudiert wenden sie ihre Köpfe und Augen synchron zu jenen Häuserecken hin, auf die der Finger des jungen Mannes vor ihnen gerade zeigt. Eine grau-schwarz-blaue Melange, die sich dem Gewand der Häuser angepasst hat.

Plötzlich tritt aus dem Innenhof hinter der Gruppe ein Clown: weiss bemaltes Gesicht, rote Nase, bunt gestreifte Hosen und ein ebenso farbiges Oberteil. Er schiebt eine Schubkarre vor sich her, in der er Luftballonfiguren, Bälle und haufenweise andere bunte Gerätschaften transportiert, die ich von hier oben allerdings nicht im Detail benennen könnte. Was für ein wunderschöner Kontrast!

Der Clown geht langsam an der kleinen Menschenansammlung vorbei, sie neugierig betrachtend, als wären sie das verwunderlichste in diesem Augenblick. Irgendetwas sagt er zu ihnen, was, kann ich natürlich nicht verstehen, doch erntet er nur ein, zwei Seitenblicke, keinerlei Beachtung, der Stadtführer ist schon bei der nächsten Geschichte. Gesichter nach oben, erstauntes Nicken.

Entstammt der Clown meiner Fantasie?

Ist er eine ganz normale Erscheinung inmitten des verrückten Alltags, der eigentlich gar keine Geschichte wert ist? Verschwende ich hier meine Bleistiftmine?

In diesem Moment bringt die Kellnerin meinen Tee und das Stück Bratapfeltorte, ich lächle dankend und will weiter über die Gruppe sinnieren – doch ist sie mit dem Clown wie vom Erdboden verschwunden. Sie hat sich in Nichts aufgelöst, als wär’ sie nie dagewesen. Sie ist nur noch ein Bild vor den Augen meiner Erinnerung.