Zum Problem der Textanalyse

Von Anfang an lernt man es, und lernt man es falsch (zumindest ist es mir so ergangen). Jede Art von Text, ob lyrischer, dramatischer, prosaischer, muss in seine Einzelteile zerlegt werden und darf nur auf eine Lesart gelesen werden – derjenigen, die dem Bewertenden gefällt. Wer also andere Bilder mit den zu analysierenden Worten verbindet, hat den Text nicht „verstanden“. Dabei ist das genau der Ansatz, der Menschen das Lesen verdirbt! Wer Kindern und Jugendlichen ein Muster aufzwingt und sie unter Druck setzt, „richtig“ zu lesen, verdirbt es ihnen (ist natürlich nicht nur beim Lesen der Fall).

„Verstehen“, also mit dem Verstand eine Sache und in diesem Fall einen Text zu erfassen, wird diesem nie gerecht werden, insofern es sich um einen literarischen handelt. Es gibt natürlich noch viele andere Arten von Texten, wie den wissenschaftlichen, die vor allem mit dem Verstand geschrieben und darum auch nur über diesen zu begreifen sind.

Literarische Texte aber müssen im Leser resonieren, sie müssen etwas in ihm zum Schwingen bringen, einen Nachhall erzeugen, ja bisweilen sogar ein Erdbeben, und allein darum sollte es bei einer Textbesprechung gehen: Spricht mich der Text an und inwiefern? Welche Bilder vermittelt er, mit welchen erzähltechnischen Mitteln tut er das? Kunst und damit auch das Schreiben ist subjektiv und kann entweder als schön oder hässlich, ansprechend oder abstoßend, gut oder schlecht empfunden werden.

Die in der Textanalyse leider zu beliebte Frage, „was der Autor uns damit sagen will“, kann und sollte niemals beantwortet werden müssen. Denn es gibt nicht die eine Antwort (wenn es sich nicht gerade um einen Text mit Agenda handelt). Der Autor hat das, was sich in ihm zusammenbraute, überfließen lassen auf Papier. Ohne an eine Leserschaft zu denken (wie gesagt, das ist das Ideal).

Die Bilder aus seinem Innersten stehen übersetzt in uns bekannte Worte Schwarz auf Weiß. Der Leser nun geht mit allen seinen eigenen Bildern, seiner eigenen Welt, an den Text heran. Ihn lesend, entfalten sich aus den Worten eigene Bilder in seinem Innern. Sie lösen Erinnerungen aus, an Erlebnisse des Lesers, an Erfahrungen, Menschen, alle Arten von Sinneseindrücken. Wenn jeder Mensch eine eigene Welt ist, wie könnte man sich jemals anmaßen zu wissen, was genau ein anderer Mensch mit seinen Worten „sagen wollte“, was er dabei fühlte, dachte? Selbst wenn er es noch so explizit tut, kann es sich dabei um eine Metapher, ein Wunsch- und Traumbild handeln und rein fiktiv sein. Es ließe sich wenn überhaupt fragen: Was sagt dieser Text mir selbst? Was ziehe ich daraus? Welche Stellen sprechen mich an und warum ist das so? Wieso gefällt mir dieser Text nicht, was daran stößt mich ab?

Es ließe sich daraus ein langer Essay schreiben, aber ich mache hier erstmal Pause. Ich habe das Thema zu meiner Doktorarbeit gemacht, wo ich dafür plädiere, auf den Text allein einzugehen, ohne ihn nur unter einem Theoriefilter zu sehen und ihm so seines Zaubers zu berauben. Natürlich ist das ein Ideal, ganz frei von Filtern sind wir nie, aber den Versuch ist es wert.

(Halle, 20.03.22)

sie weigert sich

Warum sie aneckt: Sie weigert sich, auch nur ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sie weigert sich, sich bescheiden auszudrücken, zu beschwichtigen. Sie weigert sich, auch nur einen Strahl ihres Selbst zu dimmen, um die Menschen, die doch ihr Licht suchen, weniger zu blenden.

Sie weigert sich zu sagen: Oh, das schreibe ich lieber nicht so, das geziemt sich nicht als Frau. Oh, lieber passe ich mich an, bin eine dieser Frauen mit weichen, kuscheligen Kurven, eine Liebeskugeln mit Löchern, die kann niemanden stören.

Sie weigert sich, nur einen ihrer Gedanken zu verstecken, aus Angst vor der Reaktion der Leute, aus Angst, Gefühle zu verletzen und gegen gegenwärtige Moralvorstellungen zu verstoßen. (Dabei, wie wir schon seit Friedrich wissen, befinden wir uns immer jenseits dieser, solange wir aus Liebe handeln. Oder mit Dopewalka gesprochen: Was interessiert mich die Moral, solang‘ die Liebe sich von selbst versteht. Das nur nebenbei.)

Nun, da ist also diese Frau, die sich erdreistet, in aller Öffentlichkeit ihre Meinung zu sagen. Die sich erdreistet, das anzuziehen, was ihr gefällt, die sich andere Umgangsformen wünscht, die einfach eine ganz außergewöhnliche Figur darstellt. Sie polarisiert, und niemand weiß mehr damit umzugehen, wenn ein Mensch — und noch dazu eine Frau — derart geradlinig, selbstbewusst und anspruchsvoll ist.

Das ist sie auch in ihren Texten. Sie schreibt selbstvergessen und hochgradig aufrichtig, eine Bedingung für herausragende Literatur – und die ist in diesem unüberschaubaren Haufen an gedruckten Büchern und Autor(innen) selten.

Ja wie, sie will uns die Welt erklären, wie soll das denn gehen? Ein so junger Mensch, der hat doch noch nichts vom Leben gesehen. Sie gebärdet sich, als wär‘ sie ihre Großmutter, als hätte auch sie mindestens achtzig Jahre auf dem gekrümmten Buckel.

Muss man denn erst alt sein um zu wissen? Wissen nicht manche Kinder dieser Welt schon mehr vom Leben, haben mehr gesehen als die meisten Intellektuellen und Literaten hier im Land? Sind es denn die Jungen, die unsere Zukunft gefährden, weil sie der Glanz des Goldes mehr interessiert als das Glitzern der Sonne auf dem steigenden Meeresspiegel?

(Gedanken zu einer öffentlichen Person, über die gerade viel diskutiert wird. Die Zeilen über ihr Buch habe ich nach dem Lesen der ersten paar Seiten verfasst; nach fortgesetzter Lektüre würde ich dem nicht mehr zustimmen, ich war sogar gelangweilt von ihrem Stil, die Geschichte wurde dadurch nicht spannender, und auch ihr Wortreichtum wirkt irgendwann nicht mehr lustig, sondern konstruiert und deplatziert. So.)