Genug ist genug

Ein paar Menschen stehen auf dem Platz, wo die heutige Demo startet. Sie blicken erwartungsvoll in Richtung des LKWs, von wo aus engagierte Mitbürger Reden halten, rappen, Musik abspielen. Von letzterer bin ich heute nicht angetan, „Tekke“ ist mir einfach zu langweilig, ohne Aussage und nicht zu dieser Veranstaltung passend, aber hej. Hauptsache es gibt überhaupt Menschen, die das organisieren, sich vorne hinstellen und helfen.

Da stehen also wir paar Hanseln, die einen vom Gewerkschaftsbund, die anderen von verdi, wieder andere von Fridays for Future, noch ein paar andere vereinzelte, verlorene Gestalten und ich. Dafür, dass das Thema wirklich ALLE angeht, sind wir einfach zu wenig.

Die soziale Ungerechtigkeit hat sich in den letzten Jahren auch durch die Pandemie und den Krieg noch verstärkt. Die Reichsten der Reichen haben ihr Vermögen verdoppelt und verdreifacht, während wir dafür einen hohen Preis zahlen müssen und viele nicht wissen, wie sie über den Winter kommen sollen. Diese Ungewissheit macht Angst, und die Panikmache in den Medien hilft kein bisschen. Jeden Tag lesen und hören wir von Ländern, in denen Krieg herrscht, wo Terroranschläge und Naturkatastrophen an der Tagesordnung sind oder Menschen blutig für ihren Kampf um grundlegende Menschenrechte bezahlen müssen. Alles um uns ist so laut und dann kommt noch die innere Stimme hinzu, die bei all den Nachrichten und Ängsten und Unsicherheiten einfach nur noch schreit.

Genau wegen dieser Angst gehe ich auf die Straße, weil es gut tut zu sehen, dass diese Situation andere ebenso besorgt, und auch, weil es fast noch besser ist, die Worte anderer zu hören und zum Kollektiv zu verschmelzen, das sich gegen die Ungerechtigkeit stemmt und Solidarität fordert. Neben mir sagt eine ältere Frau zu einem Papa mit Kind auf dem Fahrrad, dass sie genau wie er mit ihrem Ältesten auf dem Fahrrad damals im Herbst 1989 auf die Straße gegangen ist. Ihr „Ältester“ geht neben ihr, nickt und lächelt seinen Sohn an. Drei Generationen. Geschichte prallt aufeinander, und wir können die Situation zwar nicht vergleichen, aber auch heute stecken sich die oberen paar Tausend das Geld in die Tasche und lassen den Rest dafür bezahlen.

Immer wieder mache ich mir bewusst, dass ich eigentlich nicht viel weiß. Ich weiß nicht, ob das alles wirklich so schlimm wird, wie alle sagen, ich weiß nicht, was genau die Politiker und Reichsten tun, ich lese Artikel und weiß nicht, was sie mir vorenthalten oder verschweigen. Was sie wahrscheinlich selbst gar nicht wissen. Ich weiß nur, ich habe ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und zu trinken und im allerschlimmsten Notfall würden mir meine Eltern helfen. Also weiß ich auch, dass es mir schon mal besser als den meisten Menschen dieser Erde geht, und dafür bin ich dankbar. Ich weiß aber auch, dass es immer mehr gibt, die psychisch erkranken, die unglücklich sind, die die Schieflage spüren, die die Sinnlosigkeit ihrer Jobs verzweifeln lässt, und die merken, dass die Erzählungen, mit denen wir aufgewachsen sind, nicht mehr gelten.

Wir können nicht mehr so weitermachen wie unsere Eltern.

Es kann nicht mehr das Ziel eines jeden Menschen sein, (Klein-)Familie zu gründen, Haus zu bauen, zwei Autos davor stehen zu haben. Nur für sich zu leben. Wir müssen wieder zu einem Kollektiv werden, das zusammen gegen die Ungerechtigkeit, gegen die stärker werdende soziale Schieflage kämpft, das sich nicht mehr alles bieten lässt. Der angepriesene Individualismus der letzten Jahrzehnte wird dem noch ein wenig entgegenstehen, aber bald werden es auch die letzten kapieren:

Es geht uns nur dann wirklich gut, wenn es allen gut geht.

Dabei dürfen wir nicht auf die Demagogen und Populisten hereinfallen, die mit dem Finger nach unten zeigen, die uns noch mehr spalten wollen, weil sie so ihre Macht vergrößern. Das nutzt niemandem, nur ihnen. Diese Spaltung nutzt vor allem auch jenen dort oben, die sich amüsiert ins Fäustchen lachen, wenn wir uns gegenseitig bekämpfen, anstatt uns gegen sie zu verbünden.

Wenn wir uns dann solidarisch vereinen, kann es diese Solidarität nur international, über alle Grenzen hinweg geben. Sie kann nur zusammen mit denjenigen existieren, die bisher für unseren Wohlstand gelitten haben und leiden. Ja, unser Konsum muss sich grundlegend ändern und auch die Einstellung, jederzeit alles haben zu können. Das merken wir eh schon seit der Pandemie. Der allzeit parate Überfluss, in dem wir die letzten Jahrzehnte gelebt haben, ist Geschichte (bzw. muss Geschichte werden).

Nochmal zu der Demo heute: Es ist schade, dass so wenig Menschen da waren. Ich kann zwar verstehen, dass es sich viele lieber auf der Couch gemütlich machen, ihren Kater vom vielen Feiern auskurieren (sich von der aktuellen Situation abzulenken ist auch eine Möglichkeit, mit ihr umzugehen) oder sich sonstwie eine schöne Zeit machen. Viele aber denken bestimmt auch, was es denn nützt, auf die Straße zu gehen – „die machen ja eh, was sie wollen“. Ich glaube, wenn das jeder denken und es keine Demos mehr geben würde, dann würde sich auch wirklich nichts ändern. Aber in der Geschichte haben wir gesehen, dass Demos etwas bewegen können.

Wir sind mehr und wir sind wütend und wir haben es satt. Wir wollen eine gerechtere Welt und dafür stehen wir auf, schreien es hinaus. Jetzt ist der Zeitpunkt, wo wir etwas verändern können, wir, die wir Gerechtigkeit für alle wollen. Die da oben haben genug von allem, und wir haben genug von ihrem BS.

Also ab auf die Straße mit uns, Fäuste in die Luft und Lärm machen! Genug ist genug!