Regen

Es ist soweit. Mein Wolkenheim schmeisst mich hinaus, rausraus, ihr Süssen, Zeit wirds! Bisschen angst und bibberbange ist mir ja schon, weil schau mal auf die vielen Meter bis nach unten.

Es ist mein erstes Abenteuer als neugeborener Tropfen, Betonung auf neugeboren, denn diese Reise habe ich schon unendlich oft hinter mir, ich erinnere mich nur nicht dran. Ist auch besser so, mit leerem Gedächtnis wiedergeboren zu werden, denn wie schrecklich wäre es, sich schon von vornherein an alles zu erinnern – wir erleben ja nicht nur Schönes – und nichts wäre mehr neu und aufregend. Lauter griesgrämige, alte Regentropfen – furchtbare Vorstellung.

Also, mein erstes Mal, jetzt, nervöses Blubbern überall, ich stehe am Absprungbrett. Meine Familienmitglieder kichern, jauchzen, umarmen sich, schieben mich nach vorne bis an die Kante.

Mit dem nächsten Schritt gibt es kein Zurück mehr, der nächste Schritt ist der, vor dem ich am meisten Angst habe. Ich sage es Ihnen, der Moment zwischen Stehen und Fallen, zwischen der Sicherheit und dem Ungewissen, ist einer dieser Momente, die nicht in Worte zu fassen sind. Die zu kurz sind, um ins Gedächtnis einzugehen. Den nächsten Schritt gehen wir immer irgendwann, oft nur nicht in vollem Bewusstsein, so nebenbei.

Aber was red ich. Ich bin ein Tropfen Wasser, ich bin, dann nicht mehr, und jetzt ein anderer. Los geht’s.

Im Fallen scheinen mal Stunden, dann nur Sekunden zu vergehen. Kalt weht der Wind von rechts, bläst mich, wohin er will, im Augenwinkel bunte Lichter. Ich traue mich endlich und schaue nach unten. Weit ist es nicht mehr, der bunte Flickenteppich von gerade stellt sich als eine Welt seltsamer Formen und Lebewesen heraus. Sie werden größer, ich kleiner, und als ich endlich am Boden auftreffe, ist der Aufprall weich, sanft, da sind viele aus meiner Wolke, aber auch neue Gesichter.

Große Aufregung. So manches hat man uns von der Erde und den vielen Wegen erzählt, die unser Leben nehmen kann. Was passiert mit mir? Werde ich versickern und einer Pflanze beim Wachsen helfen? Fließe ich mit meiner Familie in einen See, ins Meer? Da würde ich gerne mal hin, mich im großen Ganzen auflösen, gemeinsam Urgewalt sein, Disco Disco Party Party. Stillstand gibt es nicht, es geht weiter, weiter, auf und ab und im Kreis.

Ganz leis’ sag ich „adieu“ und laufe los, meinem Abenteuer entgegen.

[Halle, 25.03.23]

Sinn dieser Schreibübung ist u.a. der Perspektivwechsel, aber auch das Fließenlassen. Tipp: Nehmt ein Wort, wie hier z.B. „Regen“, und schreibt eine Geschichte/ ein Gedicht (was eben „herausfliesst“) aus einer anderen Perspektive als der Euren.

Am schönsten ist es am Fluss, wenn es regnet

Wenn ich nichts anderes höre als das meditative Prasseln der Regentropfen auf meinem Schirm. Wenn der Dunst die Natur hinter einen grauen Schleier zwingt. Fische springen in Schwärmen aus dem Wasser, als würden sie sich jedes Mal absprechen: Wer fängt bei eins, zwei, drei die meisten Fliegen? Mutter und Vater Graugans quaken ihre sieben Kinder durch die nassen Wiesen zurück ans Ufer des Flusses. Ein letztes Betthupferl vor dem Schlafengehen, und dann ab, ab in die Federn! Das Wasser des Flusses scheint stillzustehen, und die normalerweise so glatte Oberfläche schmückt heute ein Ringelmuster.

Entlang des Boulevards kein einziger Mensch. Die großen, alten Bäume neigen sich neugierig über mich, auch sie sind verwundert über diese kleine Person, die des regnerischen Abends noch alleine hier entlangschlendert. Sie sind interessiert, aber distanziert. Im Falle des Falles würden sie ihre großen holzigen Köpfe und Hände über mich halten, mich beschützen, da bin ich mir sicher.

Drüben auf der anderen Seite in toten Wipfeln sitzen und krähen sie. In Scharen, es ist ihr Wetter und ihre Uhrzeit. Wie so oft frage ich mich, warum diese Vögel es so lieben, in düsterem Wetter in großen Gruppen ihre Todesbotschaften hinauszuschreien. Sie künden an die Dunkelheit aus nackten, toten Bäumen. Der Tag ist tot, lang lebe die Nacht!

Doch bin ich am liebsten hier, allein in der Wildnis, wo ich nur sie höre und sonst nichts. Keine Krähe kann mich verschrecken, ob sie es wollte oder nicht.

In den Gassen meines Viertels jedoch blicke ich um mich, an jeder Ecke potentielle Gefahr, da Schritte, dort ein Husten, Blicke, Hände, breiter Gang. Dann wechsle ich die Straßenseite, gehe einen anderen Weg und schneller, die Meditation ist vorbei, ich will nachhause in die sichere Wärme zwischen bekannten Wänden.

Von drinnen beobachte ich jetzt den Regen, wie er seine Musik auf den Dächern und Autos fortsetzt. In mir macht sich wieder die Ruhe von vorhin breit, zufrieden schließe ich das Fenster. Ein bisschen kalt ist es doch.