Schnüre und Scheren

Endlich bin ich aufgewacht. Was für ein Traum.

Mir träumte, ich sei in einem Ich gefangen, das sich ständig im Kreis drehte, Opfer seiner eigenen Gedanken.

Es waren dies keine von der netten Art. Sie flüsterten wie gemeine Mitschüler — ja, lasst euch sagen: Wer flüstert, der lügt und frisst kleine Kinder, wahre Geschichte!

Sie hatten mich an ihren Schnüren, und sie zogen mal hier, mal dort, ich bewegte mich nach ihrem Gusto. Sie ließen mich Mauern bauen und Fluchtwege, und es machte ihnen Spass, mir beim Fallen zuzuschauen.

Nun bin ich niemand, die hinfällt und nicht mehr aufsteht. Immer wieder stehe ich auf, bleibe kurz stehen, bis der Schwindel nachlässt, und gehe dann weiter. Da muss irgendwas noch kommen, sage ich dann, weil es mir vorher mein Herz versprochen hat. Das weiß ja sowieso schon immer alles früher, nur verrät es das nicht, wäre ja sonst langweilig. Oder vorhersehbar. Ha.

Dieser Traum also. Ich drehte mich im Kreis, meine Gliedmaßen an Schnüre gebunden, und es gab keinen Ausweg.

Doch da entdeckte ich eine Schere, eine Gestalt bot sie mir an. Sie war von jener Art von Traumgestalten, die plötzlich auftauchen, ohne Gesicht, nur verschwommen erkennbar und so schnell wieder verschwunden, dass sie auch aus der Erinnerung leicht entfleuchen.

Mit den ersten durchtrennten Fasern lösten sich die Fäden ganz leicht, als hätten sie nur darauf gewartet, auch von mir erlöst zu werden. Der Aufprall auf den Boden war hart. So hart, dass ich aufwachte.

Wer bin ich ohne diese Schnüre? Die mich gefangen hielten und gleichzeitig Sicherheit boten. Dank denen ich wusste, wohin ich zu gehen hatte, was ich tun sollte. Jetzt bin ich frei. Und nun?

Die Hochzeit

Meine Eltern und meine Brüder sind da. Fröhlichkeit liegt in der Luft, Lachen, Lockerheit. Plötzlich zerren sie aus einem Paket ein weißes Kleid. Freie Schultern, feiner Schleier. Mein Alptraum eines Kleides, aber doch stilvoll. Auf einen schlechten Scherz hoffend, frage ich noch, ob einer meiner Brüder jetzt endlich das passende Outfit gefunden hat. Doch irgendetwas stimmt nicht, ich ahne es, die Blicke sind so erwartungs- und spannungsvoll. Die nächsten Momente erscheinen mir wie Photographien, die ich betrachte, aber mit denen ich nichts zu tun habe. Und gleichzeitig bin ich in ihnen, erlebe die abgebildeten Szenen, bin in meinem eigenen Film.

– Du heiratest heute – verkündet mein Vater. Begeistert oder auch nur voller Schalk seine Augen, offen sein Mund, nach der erwarteten Reaktion heischend.

Ich antworte nicht. Zu oft wurde ich schon auf den Arm genommen.

Das nächste Photo.

Ihn soll ich heiraten. Guter Witz.

Ich beschließe, zu protestieren, denke mich große Reden schwingend. Mir wird langsam heiß hier, denn ich bemerke den Ernst der Lage und meiner Eltern. Nein, ich reagiere nicht ihren Erwartungen gemäß.

Ich schlüpfe in das weiße Kleid. Was soll‘s, denke ich, lieber machen, dann hast du‘s hinter dir.

Es ist mein absoluter Alptraum, in einem weißen Kleid vor den Altar oder vor sonst eine Menge zu treten und nach einem strengen Ritual einen Ring an den Finger gesteckt zu bekommen, durch den ich ein Leben lang gebunden bin. Ich kann mich nicht mal an eine Gruppe binden, wie dann an einen einzelnen Menschen?

Doch es ist der Wille meiner Familie, dieser muss gehorcht werden. Dem Druck der Gesellschaft könnte ich sowieso nicht mehr lange standhalten. Zumindest nicht hier in diesem Land, da müsste ich schon wieder ins Ausland, ganz weg von jeglichem Zugriff, jeglicher Menge, die mich kennt. Und weglaufen bringt nichts, wenn man letzten Endes doch nur vor den inneren Stimmen flieht. Ich stelle mich mir selbst.

Ich heirate, und dann nichts wie zurück in meinen Alltag, in mein Leben. Diese Heirat verpflichtet zu nichts, er ist wahrscheinlich auch froh, wenn er so weitermachen kann wie bisher. Ich werde ihm niemals jeden Tag kochen, die Wäsche waschen, das Haus sauber halten, mich den ganzen Tag um die Kinder kümmern, paar Mal die Woche einkaufen fahren, paar Mal andere Mütter mit ihren Kindern treffen, Belanglosigkeiten austauschen, die Hinterlassenschaften des Nachwuchses betreffend, niemals werde ich ihm sein Leben so angenehm wie möglich machen wollen, ihm den Hintern polstern, niemals werde ich immer nur Erbauliches, Positives, Optimistisches sagen, niemals. Niemals werde ich immer ein Lächeln auf den Lippen haben, um ihm ein gutes Gefühl zu bescheren. Was eigentlich ändert sich durch eine Heirat? Die Bezeichnung des Partners? Pflichten?

Ich werde das tun, was ich liebe, und das kann keine Heirat ändern. Vor allem keine, die nicht aus Liebe geschlossen wird. Und wäre diese wahrhaftig, egolos, eine „höhere“, müssten wir dazu nicht den Bund der Ehe eingehen. Oder heiraten wir für die Bilder? Der Erzählung wegen?

Wie dem auch sei, auch ich heirate. Trage ein weißes Kleid, durchschreite den Gang. Der Kirche oder des Standesamts?

Ich habe geheiratet. Die Kette habe ich zerschnitten, schon bevor sie geschmiedet wurde. Nichts hat sich geändert. Oder doch: die Stimme, die mir flüsterte: Wann heiratest du? Wen vor allem? Wen und wann und wo? Heirate endlich, mein Schatz. Diese Stimme ist sehr leise geworden, kaum noch für Hundeohren vernehmbar. Es lebt sich leichter jetzt. Wer hätte das gedacht.

Wird sie noch da sein, wenn ich aufwache?

Die Stimmen

Die vielen Stimmen in meinem Kopf schreien manchmal alle durcheinander, alle zur selben Zeit. Wer schreit da?

Die eine Stimme heißt sich die Vernunft, die mir immer wieder mit erhobenem Zeigefinger einflüstert, manche Dinge doch lieber sein zu lassen. „L., sei vernünftig, nicht so emotional, nicht so impulsiv, du kannst nicht immer nach deinem Herzen oder Bauch handeln, manchmal muss man einfach vernünftig sein. Schau mich an, was aus mir geworden ist, das wär‘ ich nicht, hätt‘ ich unvernünftig gehandelt. Werd doch endlich mal vernünftig, Mädchen!“

Die andere ist die Zweiflerin, bestehend aus einer Mixtur aus Stimmen meiner Vergangenheit, die hinter meinem Rücken zischend auf meine Unfähigkeit hinweist, auf meine Inkompetenz, die sowohl Intelligenz als auch Soziales betrifft. „Versuch es erst gar nicht, L., sie werden dich sowieso nur komisch finden, schau dich doch mal an, du Heuchlerin, du Schwindlerin, du Möchtegern! Bleib lieber in deinem gewohnten Umfeld, denk‘ nicht zu groß, denn warum solltest gerade du unter allen ach so talentierten Menschen dieser Erde das vollbringen und das sein, was du dir da ausmalst. Träumereien sind das, nichts weiter. Wer hat dir nur solche Dinge eingeflüstert, warum maßt du dir so etwas an? Sei still, fall‘ nicht auf, damit die Leute nicht merken, wie komisch du doch eigentlich bist.“

Dann ist da die Brave, der die Ohren nur so dröhnen von den trompetenden Durchsagen der gesellschaftlichen Erwartungen, den „Traditionen“, all den durchgeplanten Lebensentwürfen, die die Architekten der letzten Jahrhunderte in die Köpfe der Menschen gezeichnet hatten. Die Großmutter der Mutter der Tochter weitergibt, weil es keine Alternative zu geben scheint, und weil es sehr schwer ist, ein ins verborgenste Innere eingebranntes Bild zu entfernen. Ihre Hormone spielten bestimmt auch eine Rolle, sie waren eine unterbewusste Stimme der Braven, die dann und wann Gehör finden wollten und es auch fanden. „L., es wird Zeit, wenn du irgendwann Familie haben willst, dann solltest du dir jetzt endlich mal einen Mann finden, mit dem du dann auch Kinder zeugen kannst. Dafür bräuchtest du aber eh zunächst ein geregeltes Leben, sieh dich doch mal an, lebst in einer 4er-WG, keinerlei Verbindlichkeiten, keinen richtigen Job – Doktorarbeit, really? Ist doch nur ne Ausrede, um nicht arbeiten zu müssen. Wie willst du irgendwann alles unter einen Hut bekommen? Karriere, Kinder, Mann – fang am besten jetzt schon an. Nur wo, und vor allem wie?“ Schweiß, Panik, rufe Oma an.

Die vierte, oft viel zu laute Stimme ist: „der Misanthrop“. Sie ist die, die mich die Menschen hassen lässt, die den Ekel auslöst vor der Menschheit, die mich manchmal so fremd fühlen lässt auf diesem Planeten, wie ein Außerirdischer, fehl am Platz in einem viel zu engen Kostüm. Sie ist das Zischeln in meinem Ohr, das von Zeit zu Zeit mein Handeln motiviert, welches am Ende Menschen traurig, verletzt, verwirrt zurücklässt. Sie ist das Böse: Wer die Menschen hasst, wird sie niemals liebevoll behandeln. Kausal motiviertes Tun hinterlässt Opfer. Den Anderen für seine Ziele benutzen und dann wegwerfen, das war ihr liebstes Hobby. Wen kümmerte es schon, wenn die anderen doch eh verachtenswert und widerwärtig waren? Keinen wertvollen Gedanken und schon gar keine Energie wert. Das war „der Misanthrop“. Grausam, und doch wie ein guter Freund, mit dem man sich eine Zeit lang sehr wohl fühlen kann, weil er dir schmeichelt, weil er dich dazugehörig fühlen lässt zu einem geheimen Club, nur um dich am Ende leer und abhängig, benutzt und beschmutzt zurückzulassen.

Diese Stimmen sind ein Grund, warum ich mich im Wald am wohlsten fühle. Dort werden sie eins, dort werde ich eins. Keine anderen Geräusche als die des Windes, der durch die Blätter der majestätischen Bäume fährt, und das Rauschen des Flusses, der ein paar Meter weiter oben eine Staustufe überwindet und hier langsam wieder zur Ruhe kommt. Keine Gesellschaft außer der des Waldes, vor der ich eine Rolle spielen, vor der ich mein Ego definieren muss. Sie waren auch der Grund dafür, dass das Morgengrauen und die Abenddämmerung zu meinen liebsten Tageszeiten gehörten. Am Morgen lagen die meisten Menschen noch im Tiefschlaf, seelenruhig in Höhen fliegend, bevor der knallharte Weckerton sie auf den Boden der Alltagstatsachen krachen ließ und sie in ihrem Hamsterrad langsam wieder einen Fuß vor den nächsten setzten. Abends dann, die Lichter flackerten in den alten Straßenlaternen in meinem Viertel, die Sonne ging unter und die Wohnzimmerbeleuchtungen an, war es eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, durch die Straßen zu schlendern und in die Häuser der Menschen zu blicken. Auch dann fühlte ich mich eins, wenn sonst kaum jemand auf den Straßen unterwegs war (und dies war vor allem im Winter und Herbst der Fall), obwohl in manchen dieser Situationen „der Misanthrop“ Gehör zu bekommen versuchte.

Jetzt, wo ich endlich erkannt habe, dass es diese verschiedenen Stimmen in mir gibt, haben sie immer weniger Macht über mich. Ich liebe alle davon, immerhin sind sie ein Teil von mir und stehen für all das, was ich erlebt habe, und alle diejenigen, denen ich begegnet bin. Ich spreche mit ihnen, höre und rede ihnen gut zu, wie ein paar gute alte Freunde, die ich allerdings durchschaut habe, und die mich langsam beginnen zu langweilen – immer dieselbe Leier.

Kommt her, ich lad‘ euch ein. Erzählt mir eure Geschichten, damit ich euch besser kennenlernen kann. Erzählt mir alles, was euch bewegt. Ich mag gute Geschichten, die traurigen wie die spannenden wie die schönen und lustigen. Kommt doch her und setzt euch.