Umfallende Ziegen

Beim Gedanken an diese Geschichte frieren meine Finger ein, alles in mir wehrt sich schon bei der Vorstellung meines Stifts auf Papier. Wie gelähmt bin ich, kann das Bild in meinem Herzen nicht nach draußen tragen. Ist es vielleicht schon zu perfekt in meinem Kopf, so dass mich die Angst vor Nichterfüllung der eigenen Erwartungen hindert?

Ich habe jetzt einen Plan, und er sieht gut aus, doch an der Umsetzung hapert‘s. In meiner Vorstellung das ganze Buch, auf meinem Schreibtisch ein leeres Blatt. Im Moment zu viel zu tun, andere Schreibprojekte zu erledigen, nicht die beste Arbeitsatmosphäre, zu viele Menschen um mich herum – die Liste meiner Gewissensberuhigungen ist lang.

Wie besiege ich meine Blockade?

Der Kopf im Helm

Mir träumte:

Ein ganzes Abenteuer entspann sich um die Bushaltestelle in meinem Heimatdorf. Nicht mehr viel erinnere ich, und doch war der Boss der Bösen am Ende jemand, den ich kannte, fürchtete, vielleicht aber auch eine rein fiktionale Figur. Er offenbarte sich als ein Kopf, der plötzlich oben an der Wand auftauchte, geschützt von einem Helm, der ihn ohne Körper leben ließ. Er war es, der die „Bösen“ in diesem Abenteuer befehligt hatte, und nun erschien er wie der Endboss in einem Videospiel. Er strahlte das Böse aus, und selbst im Schlaf spürte ich meine Gänsehaut.

Ich weiss nicht mehr, was er sprach, vermutlich lachte er ein grauenvolles Harrharr und erklärte seine Vorgehensweise, mit der er uns nun besiegt hatte. Da ergriff ich einen Stein, und schlug mit dessen spitzer Kante so fest es ging auf seinen Helm.

Ich schrie: So hilft mir doch einer! Aber es kam keiner, und so schlug ich immer fester, bis das Glas zersprang. Der Kopf darin schnappte wie ein Fisch ausserhalb des Wassers, er schnappte nach seiner Luft, doch sie war dem Helm entwichen.

Kurz bevor ich aufwachte, hörte ich noch ein Geräusch, wie wenn aus einem Luftballon die Luft entweicht und er kleiner werdend davon fliegt. Der Kopf war zusammengeschrumpft und der Helm fiel zu Boden, als wäre nie etwas geschehen.

Ein Helm liegt an einer Bushaltestelle. Die Stämme der Bäume nebenan sind bunt bestrichen. Ich fahre nachhause…

Raffiniertheit

— Im Laufe der Jahrzehnte erfanden die Tribune der Stadt immer neue Wege, die Menschen in Schach zu halten. Sie wollten ihre Energien niedrig halten, die sie eventuell zu Revolutionen, zu Aufständen getrieben hätten. Sie wollten ihr Geld und demnach auch ihre Macht vermehren, indem sie die Bewohner der Stadt durch raffinierte Tricks dahin lenkten, wohin sie sie haben wollten. Und das war vor allem mehr, länger, allumfassendere Macht. Macht durch Einfluss, Macht durch Wissen.

Wie aber beeinflussten sie die Menschen? Woher wussten sie, was diese wollten, und wie brachten sie sie dazu, genau das zu wollen und zu kaufen, was sie ihnen verkaufen wollten?

Es waren viele Schritte nötig, um die Bewohner zu dem zu machen, was sie heute sind. Eine wehrlose, apathische, gleichgültige Masse, die funktioniert und gleichzeitig — das ist ja das Perfide und Geniale an der Sache — davon überzeugt ist, nach ihrem „freien Willen“ zu handeln. Das geht ja bisweilen sogar so weit, dass Menschen, die kapiert haben, was wirklich vor sich geht, noch so intensiv und überzeugend darlegen können, was Sache ist — niemand will wirklich auf seinen Komfort verzichten, alle glauben lieber das, was bequem ist und nichts an ihrer doch eigentlich ganz angenehmen Situation ändert.

— Das klingt wie ein Märchen, aber ein sehr gruseliges. Welchen Zaubertrick haben die Tribune denn da bitte angewandt?

— Nun, nachdem man die Technologie endlich soweit hatte, gab es ein paar Firmen, die sich besonders raffinierte Tricks ausgedacht hatten, was ihnen bald die Leitung der Technologiesektion einbrachte. Man kann ihnen eigentlich nicht vorwerfen, die allein Schuldigen zu sein, die „Teufel“ der Gegenwart, denn sie handelten ja nicht anders als von den Machthabern gewollt. Sie handelten nach den Vorgaben des Systems, das nach Geld schreit und dessen Motor die Werbung ist. Das die Psyche der Menschen durch und durch kennt und sie manipuliert. Die Grundbedürfnisse des Menschen wurden tatsächlich noch nie so intensiv beeinflusst wie in der Gegenwart, ich nenne es Phase 4 oder Endphase der Technologieentwicklung, wobei es wahrscheinlich noch mehr Endphasen geben wird, was ich mir heute nur noch nicht vorstellen kann. Das, was wir bisher fiktionale Wissenschaft nannten, setzten die Menschen früher oder später in Realität um.

— A la „was ich sehen kann, kann auch wahr werden“.

— Ganz genau so. Der ein oder andere Autor sah in der Vergangenheit Technik und Systeme, er schrieb über diese Utopien oder Dystopien — meistens ja eher Dystopien — und wer weiß, vielleicht träumten diese Autoren davon? Oder sie hatten einfach eine sehr lebendige Phantasie, oder Visionen. Naja, und heute, schauen wir uns doch um, heute ist das alles Realität. Wir leben mittendrin.

— Puh. Kann das bitte nicht doch ein Märchen sein? Ein Traum? Das macht mich so mutlos. Und ohnmächtig. Und wütend. Und hilflos.

Sagte sie, kurz vor der Verzweiflung und gleichzeitig so entschlossen wie nie. Sie wusste denn tief in ihr, dass er die Wahrheit sprach, gerade, weil seine Worte so weh taten.

— Der einzige Ausweg ist, und das schrieb schon einer dieser Autoren damals, die Revolution in unseren Köpfen und Körpern. Eine Revolution, die mit der Suche nach dem Unterirdischen See beginnt, eine Suche, auf die sich jeder allein begeben muss, nur Hinweise, Erfahrungsberichte, Ratschläge darf man mitnehmen. Du weißt aber hoffentlich auch: Du bist niemals wirklich „allein“.

So, ich glaube, ich habe sowieso schon zu viel verraten, sie werden wohl bald kommen und mich holen…

— Aber sag doch bitte noch, wo soll ich anfangen? Wo soll ich hingehen? Wie kann ich den See finden? Irgendwelche Tipps?

Panisch überlegte sie sich noch mehr Fragen, die sie auf die Schnelle stellen konnte.

— Woher weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin? Oder auf dem falschen? Woher weiß ich, wem ich trauen kann und wem nicht? Warum gerade ich?

Doch er lachte nur laut auf, als hätte sie einen besonders guten Witz erzählt, und schaute dann wieder sehr ernst.

Tat twam asi, meine Liebe. Alles bist du, alles ist in dir. Wie lautete noch gleich dieses Gedicht?