Liebe Lenka,
verzeih, dass ich mich so lange nicht meldete. Manchmal muss ich Abstand zur Vergangenheit nehmen, im Hier und Jetzt leben und für die Menschen meiner Gemeinschaft da sein.
Der Grund, warum ich dir heute schreibe: Mir fiel ein, ich habe dir noch nicht von etwas sehr Wichtigem erzählt. Na gut, ich habe dir vieles noch nicht erzählt, weil es noch unpassend ist oder ich die richtigen Worte nicht finde.
Das Thema des heutigen Briefes ist: Für die Zeit, in der du lebst, ist es wichtig, ein Ziel zu kennen und in dessen Richtung mutig vorwärtszuschreiten. Einige Dinge werdet ihr hinter euch lassen müssen, aber das ist nicht schlimm, je weniger Gepäck, desto besser. Vieles in eurer Zeit ist sowieso veraltet und erschwert eure Reise. Manche werden aufgeben, es werden sich verschiedene Gruppen bilden aufgrund von Uneinigkeiten über den „richtigen“ Weg.
Viele sind erschöpft, weil das Gepäck schwer ist, die Vielzahl der Wege zum Ziel unübersichtlich und letzteres oft nicht mehr sichtbar oder sogar ganz vergessen. Sie können nicht mehr, bleiben lieber stehen, machen es sich an Ort und Stelle bequem, dort ist es ja gerade ganz gut auszuhalten, so schlecht geht es niemandem. Aber hinter euch droht Feuer und Wasser abwechselnd mit eurem Untergang, alte Gespenster tauchen auf, flüstern euch schaurige Geschichten ins Ohr, sie kennen eure Urängste genau, denn davon ernähren sie sich.
Die Menschen werden beginnen, hohe Mauern um sich herum zu bauen, die ihnen das Gefühl von Sicherheit geben, doch jede Mauer ist überwindbar. Und während sie die Bedrohung vermeintlich draußen hält, ist diese schon längst in die Menschen gekrochen, denn in Wahrheit kommt sie von drinnen. Sie wird sie von innen heraus auffressen, und eingemauert durch Wände an Toten werden sie von der nächsten Flut überrollt, unfähig, auszubrechen und zu fliehen. Wer um sich herum Mauern baut, wird selbst zum Gefangenen. Gruselig, oder?
Es ist auch eine sehr beängstigende Zeit, in der das Gegenteil von Mauern und Angst wichtig ist: Das, was deine Zeit so dringend benötigt, ist Mut und vor allem Hoffnung. Euch fehlt noch die entscheidende, alle vereinende Erzählung, das Ziel, in dessen Richtung ihr laufen könnt.
Was gerade mit euch passiert: Ihr werdet von der Angst in tausend verschiedene Richtungen zersplittert, blind getrieben in Richtung Abgrund. Ich kann dir sagen, es gibt da tatsächlich einen, ich verrate nicht, wo, aber ich weiß, dass er da ist. Lasst euch nicht von den alten Geistern jagen, und wenn, dann nur zu mir, in Richtung Hoffnung.
Voll Verzweiflung fragst du, wie eine solche Erzählung aussehen kann? Seid optimistisch. Stellt euch eine Welt vor, wie sie euch gefällt. Geht davon aus, dass Menschen gut sind, dass sie rücksichtsvoll im Hinblick auf die gesamte Menschheit handeln. Nehmt all eure Intelligenz zusammen, mit der ihr so viel Unheil anrichtet, immer nur mit dem Gedanken an mehrmehrmehr, und entwickelt Technologien, die euch helfen, nicht zerstören. Oder zerstört die Technologien, die euch kaputt machen, das geht auch (meistens entstehen diese ja in guter Intention). Besinnt euch eurer Verbindung mit Allem, eures Einsseins, denn die Getrenntheit eurer Zeit hat euch krank gemacht. Nutzt die Kraft, mit der ihr zerstört, zum Wiederaufbau, zum Erhalt, zur Gesundung.
Mehr kann ich heute nicht schreiben, der Brief ist schon zu lang. Besser gesagt, ich darf nicht, ich habe schon genug Ärger mit den Behörden. Du musst wissen, es gibt da eine Behörde in meiner Zeit, die ist nur dafür zuständig, dass Zeitreisende weder die Vergangenheit noch die Zukunft ändern. Das ist auch gefährlich, ich habe das schon selbst erlebt. Aber ein bisschen Hilfe kann nicht schaden, was meinst du? Ich hoffe, du empfängst diesen Brief wohlbehalten und ziehst ein wenig Hoffnung daraus.
In Liebe,
Deine Lenka Lewka
[Halle, 17.9.2023]