Schöne, wilde Blume

Schöne, wilde Blume, warum reisst du sie aus?

Weisst du nicht, wenn du sie mitnimmst, ist das der Anfang vom Ende? Du willst sie besitzen, nimmst dir, was du brauchst, allein etwas zu töten kann nie ein Zeichen von Liebe sein?

Sie sind so bunt, riechen gut, vollenden den Raum? Das ist alles äußerlich und dient allein deinen Zwecken.

Diese Blume aber kann niemandem gehören, ihre Natur ist wild, frei, und wer sie an sich nimmt, raubt ihren Geist, hält sie künstlich am Leben.

Warum wohl geht sie nach kurzer Zeit ein, warum überlebt sie nicht trotz des Düngers, des besonderen Wassers, des schönen Platzes am Fenster?

Das Schöne verwelkt, wenn Du es besitzen und einsperren willst. Empfindest du wahre Liebe, lass los, erfreu Dich ihrer Natur und also ihrer Freiheit.

[Halle, 23.4.23]

Spiegelung

Der Kies knirschte mit seinen kantigen Zähnen. Schon wieder ein weiterer Besucher, schon wieder einer, der die flachsten Teile seines Selbst in einer raschen Drehung von hinten nach vorne, den Ellenbogen nach innen verdreht, die Hand mit dem Stein nach oben zeigend, möglichst oft über die stille Wasseroberfläche springen lässt.

Keine Sorge, sprach ich zu ihm.

So wie jede Woche? fragte er mich.

Voraussichtlich, nickte ich.

Wir waren beide keine Freunde von überflüssigen Worten.

Mit größtmöglicher Behutsamkeit überquerte ich ihn barfuß und setzte mich ans Ufer des Sees, der zehn Minuten mit dem Fahrrad von meiner Wohnung entfernt und für eine Stunde nun mein Zuhause war.

Wolkenlos der blaue Himmel über dem Wasser. Die Septemberwelt spiegelte sich darin, und je nach Wetterlage, je nach Einfluss von außen, kräuselte, überschlug und trübte sich die Oberfläche, die doch ansonsten so blitzblank sauber vor sich hin glitzerte.

Es ist dies ein Phänomen des Wassers, das doch eigentlich keinerlei Farbe besitzt, jedes Blau oder Grün oder Braun anzunehmen, das sich in ihm spiegeln will oder das sich ungefragt mit diesem vermischt. Hinzu kommen die Jahreszeitenfarben der Blätter, noch an den Bäumen oder auf der Wasseroberfläche schaukelnd gleich den Booten, die die Spannung für einen kurzen Moment durchtrennen.

Von Zeit zu Zeit schnappte ein Fisch nach einer Fliege. Vielleicht machte ihm auch das Springen Spaß oder er musste sich seines Daseins vergewissern, indem er für einen kurzen Moment sein gewohntes Umfeld verließ und nach Luft schnappte.

Wer wusste das schon.

Ich war die Letzte, die ihm ein Selbst-Bewusstsein absprechen würde. Manchmal zweifelte ich sogar an, dass wirklich ich außerhalb des Wassers war, und nicht der Fisch. Wir werden es wohl erst wissen, wenn wir am Ende auf dem Trockenen liegen, all dem entzogen, was wir vorher als Selbstverständlichkeit ansehen.

Derlei Gedankenexperimente und -höhenflüge leistete ich mir einmal in der Woche. Auszubrechen aus dem Hamsterrad des gedanklichen Alltags, das war es, was mir der See versprach – und gebrochen hatte er sein Wort noch nie.

Manchmal führte ich Gespräche mit einem der Reiher, die am Ufer entlang staksten, oder einem der Frösche, die mich mit ihren großen Augen und breiten Mäulern zuerst misstrauisch anglupschten und schließlich in breitem Vorarlberger Dialekt raunzten, was ich denn da eigentlich die ganze Zeit so dumm vor mich hin glotze. Richtig ernst meinten sie das allerdings nie, es war mehr das „leben und leben lassen“, um das sie fürchteten, und es daher mit ein paar liebevoll-groben Quaks sicherstellten. Mit der Zeit hatte sich eine Waffenruhe zwischen uns etabliert wie zwischen zwei Stammtischbrüdern, die einmal in einem etwas lauteren Wortgemenge ihre Grenzen festgesetzt hatten und fortan friedlich nebeneinander ihr wortloses Trinken pflegten.

Bisweilen setzte sich eine andere Menschenseele zu mir, das gleiche Bedürfnis nach der absoluten Stille des Wassers hegend, welche sich in gleichmäßigem Rhythmus tief in dein Herz schwappt. Der See spiegelte alle meine Launen wider, das war verrückt, das konnte ich mir gar nicht ausdenken: War es in mir grau und nebelig, lag auch auf dem Wasser ein feiner Dunst, der kaum das klare Nass darunter erkennen ließ. Herrschte in mir Frühling und Sonnenschein, so auch über dem See. Ich weiß, das klingt herbeigedichtet, künstlich, die Natur machte doch, was sie will. Wahrscheinlich waren wir eine Symbiose eingegangen, wir beeinflussten und spiegelten uns gegenseitig.

Die meisten dieser Seelen neben mir waren schon sehr alt, ohne große Einleitung begannen sie vom Damals zu erzählen, als die Bilder auf dem Wasser ihres Innersten noch heller, bunter, lebendiger waren, als die Gegend vom See lebte.

Ihre Worte wurden in mir zu riesigen, dunklen Drachen, die Feuer und Rauch aus ihren Rachen spien und die Ufer schwarz färbten, im Sommer die Wiesen, im Winter den Schnee; grauschwarz geriet die Landschaft ihrer Worte. Vielleicht lag dies aber auch daran, dass ich mir Vergangenheit grundsätzlich wie einen einzigen Schwarzweißfilm vorstellte.

Wer wusste das schon.

Diese Stunde am Wasser ist für mich der Opa, den ich nie hatte, ich lausche den Wellen und dem Wind und den Bäumen, den Vögeln und den Fischen und den Menschen, und sie erzählen mir ihre Geschichten von damals und heute. Wir schweigen und schauen, und ganz leise, bis nächste Woche, verabschieden wir uns dann.

Bis bald, knirscht der griesgrämige Kies lächelnd, und wartet geduldig auf seinen nächsten Gast.

Regen

Es ist soweit. Mein Wolkenheim schmeisst mich hinaus, rausraus, ihr Süssen, Zeit wirds! Bisschen angst und bibberbange ist mir ja schon, weil schau mal auf die vielen Meter bis nach unten.

Es ist mein erstes Abenteuer als neugeborener Tropfen, Betonung auf neugeboren, denn diese Reise habe ich schon unendlich oft hinter mir, ich erinnere mich nur nicht dran. Ist auch besser so, mit leerem Gedächtnis wiedergeboren zu werden, denn wie schrecklich wäre es, sich schon von vornherein an alles zu erinnern – wir erleben ja nicht nur Schönes – und nichts wäre mehr neu und aufregend. Lauter griesgrämige, alte Regentropfen – furchtbare Vorstellung.

Also, mein erstes Mal, jetzt, nervöses Blubbern überall, ich stehe am Absprungbrett. Meine Familienmitglieder kichern, jauchzen, umarmen sich, schieben mich nach vorne bis an die Kante.

Mit dem nächsten Schritt gibt es kein Zurück mehr, der nächste Schritt ist der, vor dem ich am meisten Angst habe. Ich sage es Ihnen, der Moment zwischen Stehen und Fallen, zwischen der Sicherheit und dem Ungewissen, ist einer dieser Momente, die nicht in Worte zu fassen sind. Die zu kurz sind, um ins Gedächtnis einzugehen. Den nächsten Schritt gehen wir immer irgendwann, oft nur nicht in vollem Bewusstsein, so nebenbei.

Aber was red ich. Ich bin ein Tropfen Wasser, ich bin, dann nicht mehr, und jetzt ein anderer. Los geht’s.

Im Fallen scheinen mal Stunden, dann nur Sekunden zu vergehen. Kalt weht der Wind von rechts, bläst mich, wohin er will, im Augenwinkel bunte Lichter. Ich traue mich endlich und schaue nach unten. Weit ist es nicht mehr, der bunte Flickenteppich von gerade stellt sich als eine Welt seltsamer Formen und Lebewesen heraus. Sie werden größer, ich kleiner, und als ich endlich am Boden auftreffe, ist der Aufprall weich, sanft, da sind viele aus meiner Wolke, aber auch neue Gesichter.

Große Aufregung. So manches hat man uns von der Erde und den vielen Wegen erzählt, die unser Leben nehmen kann. Was passiert mit mir? Werde ich versickern und einer Pflanze beim Wachsen helfen? Fließe ich mit meiner Familie in einen See, ins Meer? Da würde ich gerne mal hin, mich im großen Ganzen auflösen, gemeinsam Urgewalt sein, Disco Disco Party Party. Stillstand gibt es nicht, es geht weiter, weiter, auf und ab und im Kreis.

Ganz leis’ sag ich „adieu“ und laufe los, meinem Abenteuer entgegen.

[Halle, 25.03.23]

Sinn dieser Schreibübung ist u.a. der Perspektivwechsel, aber auch das Fließenlassen. Tipp: Nehmt ein Wort, wie hier z.B. „Regen“, und schreibt eine Geschichte/ ein Gedicht (was eben „herausfliesst“) aus einer anderen Perspektive als der Euren.

Das ist keine Liebe

Wenn du jemanden aus purem Egoismus und damit auch aus purer Angst besitzen willst, ihm durch Psychospielchen die Menschen, die er liebt, vertreiben willst, wenn du ihn auf die ein oder andere Art zwingst, bei dir zu bleiben, wenn du ihm seine Freiheit und seine Freund:innen nicht zugestehen kannst, wenn du meinst, er gehört nur dir, und ihn und andere Menschen durch Lügen verletzt – das ist keine Liebe.

Wenn er sich erst „freikaufen“ muss und merklich ein Felsklotz von seinem Herzen fällt – das ist keine Liebe.

Ihn mit dem eigenen Kind zu erpressen – das ist keine Liebe.

Wenn er furchtbare Angst vor dem Moment hat, in dem du herausfindest, wer seine Partnerin ist, weil er weiß, dass du dann etwas Verrücktes machst, dass du dann versuchst, diese Beziehung zu zerstören, so wie du es mit all den anderen (platonischen) Freundinnen gemacht hast – das ist keine Liebe.

Das ist (Selbst-)Hass, niedrigstes Selbstwertgefühl, Verlust jeglichen Realitätsbezugs, Egoismus, Verblendung, Bosheit, aber – das ist keine Liebe.