Was macht einen Text lesenswert?

Er überrascht. Er berührt, bewegt.

Er zeigt mir vermeintlich Altbekanntes aus einem anderen Blickwinkel.

Er lässt mich das, was ich aus Gewohnheit nicht mehr sehe, erkennen.

Er wirft sein Licht in die dunklen, verstaubten, natürlich vergessenen und absichtlich übersehenen Ecken.

Er verbindet zuvor Unverbundenes, unvereinbar Gedachtes.

Er kommt von Herzen. Er bedenkt das größere Ganze.

Er schwafelt nicht.

Er hat keine Agenda.

Er überschreitet die Grenzen des Möglichen.

Er stellt Gewissheiten in Frage.

Er predigt nicht, hat keinen moralischen Zeigefinger.

Leichtigkeit und Tiefe gehen in ihm Hand in Hand.


Was macht einen Text für Euch lesenswert? Was würdet Ihr hier ergänzen?

Die schönste Geschichte der Welt

„Waaas würdest du tuuun“, fragte mich mein Freund Rabe, „wenn Du wüüüsstest, Du hast noch genaaau eine Woche zu lääben?“ Er schüttelte seine Flügel aus und schaute mich neugierig mit zur Seite geneigtem Kopf an.
Mich überraschte eine solche Frage nicht. Wir unterhielten uns immer sehr philosophisch und ohne große, höfliche Einleitungen.
„Ich würde die schönste Geschichte der Welt schreiben“, antwortete ich, ohne viel darüber nachdenken zu müssen. „Ich würde es nicht mehr länger aufschieben.“
„Ohhh, interessaant, erzäähl sie mir doch bäätte. Wovon handelt sie denn und warum iist es die schäänste Geschichte der Wäält?“
„Weil ich sie ohne Angst schreiben würde. Ich hätte ja nichts mehr zu verlieren, oder? Könnt nicht versagen, die Meinung der Leute könnt mir egal sein, und ob ich damit erfolgreich bin oder nicht, auch. Die schönste Geschichte der Welt wär deshalb am schönsten, weil ich sie ohne Angst und aufrichtig erzählte. Aber ich kann Dir jetzt nicht verraten, wovon sie handelt, weil ich nicht in sieben Tagen sterbe und weil ich sie nicht aussprechen darf, sonst landet sie nie auf Papier.“ Da war ich ganz abergläubisch. Ziele und Pläne darf man niemandem verraten, sonst werden sie nicht wahr. Und andere wollen zu viel mitreden oder sie dir schlecht machen. Nix gut.
„Och Määnsch“, krähte der Rabe auf meinem Fensterbrett, „gib mir doch wäänigstens ein paar Hinweise. Bääätte. Ich läääbe Deine Geschichten.“
Die schönste Geschichte der Welt hat keinen Anfang und kein Ende. Sie beobachtet und beschreibt, sie interpretiert nicht. Sie enthält Liebe und Tod auf natürliche Weise, sie konstruiert nicht. Es gibt keinen roten Faden, doch alles hängt zusammen. Es gibt keine äußere Ordnung, nur eine innere, für aufmerksame, geduldige Leser auf den zweiten oder dritten Blick erkennbare. Sie wird zur Nicht-Geschichte, wenn man so will, denn die schönste Geschichte der Welt ist das Auflösen dieser, sie ist ein Nicht-mehr-erzählen.

Wie wird eine Geschichte für Dich zur schönsten Geschichte der Welt?

[Essenbach, 2.8.22]

Die Pfütze

Folgende Geschichte hat sich eines Nachts tatsächlich so zugetragen, obwohl sie so unwirklich klingt, dass wir es selbst kaum glauben können. Weil wir uns so absolut nicht erklären können, wie diese Situation entstand, sind wir mehr als dankbar für jegliche eurer Theorien. Doch lest zunächst selbst:

Plötzlich befand ich mich auf Holz. Dunkel war’s, und neben mir hingen schmale Oberkörper nebeneinander gereiht an Haken. Völlig perplex bemerkte ich erst jetzt, dass ich nicht alleine war. In mir stand einer der „Menschen“ genannten Lebewesen dieses Planeten und bewegte sich nicht.

Seltsam war: Ich hatte wirklich absolut keine Ahnung, wie ich hierher gekommen war. Ich war schließlich eine Pfütze Wasser, und das tauchte nicht einfach so aus dem Nichts auf. Die Menschen holten mich aus ihren Leitungen, sie tranken mich aus Gefäßen. Nirgendwo aber war eines davon in Sicht, nirgendwo war eine Spur Wasser, die uns in Richtung der Quelle geführt hätte, von der ich entstammte. Die Tür hinter dem Menschen war geschlossen, es war Nacht.

Auf einmal ward es Licht. Ich blinzelte und breitete mich vor Schreck noch ein wenig weiter über den Boden aus.

Ein zweiter Zweibeiner kam um die Ecke. Riesig und furchterregend. Wie nach monatelangem Winterschlaf rieb er sich verwundert die Augen. Er machte Laute, die offensichtlich in demjenigen etwas bewegten, der in mir stand.

⁃ Was machst du da, mein Sohn? Du bist ja völlig desorientiert!

⁃ Ich bin nicht desorientiert.

Kam monoton aus dem Mund des Desorientierten.

Endlich stieg der Mensch aus mir heraus. Erleichtert schwappte ich ein wenig hin und her, meine neue Bewegungsfreiheit feiernd. Doch nicht lange währte dieser Moment der Freude. Der winterschlafende Zweibeiner holte einen meiner Feinde – einen riesigen Lappen – und warf ihn auf mich.

Noch bevor ich das Rätsel meiner Herkunft gelöst hatte, war mein Leben vorbei, zumindest in dieser Form. Der Stoff nahm mich auf und ich ging mit, löste mich in Abermillionen Teilchen auf, wirbelte die Kanaäle hinunter und bin jetzt, wo ich dies hier erzähle, schon längst in anderer Gestalt, doch das ist eine andere Geschichte.

Wirbelsturm

Die alten Erzählungen haben ausgedient. Sie wissen es schon und halten sich deshalb mit aller Kraft an den Menschen fest.

Die alten Erzählungen haben Jahrhunderte überlebt, was kann daran also schlecht sein?

Das Alte zerbröckelt, Zeit für Neues.

Wir haben sie durchschaut, sie machen uns nichts mehr vor.

Die verkrusteten, starren Strukturen aufzubrechen, kostet viel Kraft, es ist die Herausforderung unserer Zeit. Menschen haben alle paar Jahrhunderte ihr Denken überdacht, exakt in einem solchen Wirbelsturm befinden wir uns gerade.

Nach dem Unwetter werden wir aufräumen, für neue Ordnung sorgen müssen, denn alles, was dem Sturm nicht standhalten konnte, was gefallen ist oder ausgerissen wurde, muss beiseite geschafft werden.

Die Luft wird frischer, reiner, nicht mehr abgestanden sein, endlich wieder tief einatmen, endlich wieder klare Sicht. Dann werden wir aufstehen, den Staub und Dreck aus unseren Herzen, Köpfen und Klamotten klopfen und zusammen etwas aufbauen, das dem nächsten Sturm standhält.

freiwilliges Ausziehen

Das menschliche Bedürfnis zu erzählen ist grenzenlos. Und dieses Bedürfnis nutzten die Tribune aus. Sie hatten aus jenen Zeiten gelernt, als ihre Vorgänger mit der Überwachung zu offensichtlich umgegangen waren und jeden kleinsten Verstoß bestraft hatten. In die Erzählungen gingen jene ihrer Vorgänger ein, die besonders gewaltsam entweder mit all ihren Bewohnern oder nur mit bestimmten Gruppen umgegangen waren.

Die Tribune wussten, dass jene Vorgänger sich getäuscht hatten. Nicht einige wenige Bewohner waren das zu lösende Problem, alle waren es. Alle diese armen, ameisengleichen, willenlosen und ekligen Gestalten, ja, es war am einfachsten — und saubersten — einfach sie alle zu überwachen. Aber nicht nur das. Sie hatten es in jahrzehntelanger Arbeit geschafft, die Bewohner zu gleichgültigen Gestalten zu verwandeln, ohne dass sie es selbst bemerkten. Freilich, manche wehrten sich anfangs noch. Das unbekannte Neue macht nun mal Angst.

Doch selbst die, die ihre Mitmenschen am lautesten warnten, verstummten mit der Zeit, denn wenn der Mensch eines liebt, dann ist es ein Werkzeug, das seinen Arm verlängert und sein Leben vereinfacht. Sie hatten es sogar geschafft, dass die Bewohner selbst den Tribunen so viele Informationen wie möglich über sich gaben! Oh, diese Menschenaffen, ein einziger glitzernder Stock reicht aus und sie sind stumm stundenlang.

Wie brachten sie die Bewohner dazu, sich nackig zu machen und alles bis zum kleinsten Detail ihrer Gesundheit und ihres Körpers herzugeben? Sie verkauften es als Vorteil für jeden Menschen, als Erleichterung des Alltags, als „cool“. Sie zwangen alle Firmen der Stadt mitzumachen, und wer nicht mitmachte, galt bald als verdächtig oder war raus aus dem Spiel, ausser Gefecht gesetzt durch fehlenden Fortschrittswillen, durch die eigene Sturköpfigkeit.

Wer bitte will nicht fortschrittlich sein? Wer nicht mit der Masse mitgeht, bleibt irgendwann allein zurück. Und wer will bitte alleine sein? Sie verkauften den Menschen das Alleinsein als Teufel und den Fortschritt als Gott.

Ein Gedankenspiel

Frei sein. Loslösen. Ich stelle mir vor, nicht von hier zu sein, sondern von einem anderen Planeten. Ohne Wörter für uns Alltägliches. Ohne Vorstellung, wie die Welt funktioniert, nur beobachtend.

Das erfordert enorme Kraft: Genau hinsehen, was für uns Menschen ganz „normal“ ist, was naturgegeben, was von uns gebaut, kultiviert, künstlich ist. Vergessen. Das Überflüssige vergessen. Alles.

Was sind gewisse Vorannahmen, die ich aufgrund meiner Erfahrung mache und mit der ich Dinge beschreibe? Was sehe ich nicht aufgrund meiner Erfahrung? Auf was lege ich besonderes Augenmerk?

Sehe und beschreibe ich manche Dinge so aufgrund meines kulturellen und sonstigen „Hintergrunds“? Aufgrund der Erzählungen, mit denen ich aufgewachsen bin?

Wie erlebe ich mit all meinen Sinnen – oder gar ohne sie? (Bei diesem Gedankenspiel gehe ich davon aus, dass der Ausserirdische die gleichen Sinne hat wie wir Erdenbewohner.) Teilweise fehlt mir der Wortschatz, um Dinge „exakt“ zu beschreiben, doch dann kommt die Poesie ins Spiel – beziehungsweise muss ich mit mir bekannten Wörtern das mir Unbekannte wiedergeben.

(Wird der Außerirdische verstehen, was Liebe ist? Was Ehe ist? Alle vom Menschen gemachten Regeln, Grausamkeiten, Zerstörungen seines eigenen Planeten?)

(Halle, 18.05.19)

Clown und Grau

Ich sitze im Café Riquet in Leipzig. Von meinem Fensterplatz im ersten Stock kann ich gut die vorbeihastenden Menschen unten auf der Straße beobachten. Heute hasten sie ein wenig langsamer, es ist Sonntag und, für Leipzigs Innenstadt, wenig los draußen. Eine Gruppe von ungefähr acht Menschen bleibt genau so stehen, dass ich sie gut betrachten kann. Sehen sie mich auch oder doch nur die Elefanten an der Hauswand? Touristen, vermute ich, denn wie einstudiert wenden sie ihre Köpfe und Augen synchron zu jenen Häuserecken hin, auf die der Finger des jungen Mannes vor ihnen gerade zeigt. Eine grau-schwarz-blaue Melange, die sich dem Gewand der Häuser angepasst hat.

Plötzlich tritt aus dem Innenhof hinter der Gruppe ein Clown: weiss bemaltes Gesicht, rote Nase, bunt gestreifte Hosen und ein ebenso farbiges Oberteil. Er schiebt eine Schubkarre vor sich her, in der er Luftballonfiguren, Bälle und haufenweise andere bunte Gerätschaften transportiert, die ich von hier oben allerdings nicht im Detail benennen könnte. Was für ein wunderschöner Kontrast!

Der Clown geht langsam an der kleinen Menschenansammlung vorbei, sie neugierig betrachtend, als wären sie das verwunderlichste in diesem Augenblick. Irgendetwas sagt er zu ihnen, was, kann ich natürlich nicht verstehen, doch erntet er nur ein, zwei Seitenblicke, keinerlei Beachtung, der Stadtführer ist schon bei der nächsten Geschichte. Gesichter nach oben, erstauntes Nicken.

Entstammt der Clown meiner Fantasie?

Ist er eine ganz normale Erscheinung inmitten des verrückten Alltags, der eigentlich gar keine Geschichte wert ist? Verschwende ich hier meine Bleistiftmine?

In diesem Moment bringt die Kellnerin meinen Tee und das Stück Bratapfeltorte, ich lächle dankend und will weiter über die Gruppe sinnieren – doch ist sie mit dem Clown wie vom Erdboden verschwunden. Sie hat sich in Nichts aufgelöst, als wär’ sie nie dagewesen. Sie ist nur noch ein Bild vor den Augen meiner Erinnerung.