Die schönste Geschichte der Welt

„Waaas würdest du tuuun“, fragte mich mein Freund Rabe, „wenn Du wüüüsstest, Du hast noch genaaau eine Woche zu lääben?“ Er schüttelte seine Flügel aus und schaute mich neugierig mit zur Seite geneigtem Kopf an.
Mich überraschte eine solche Frage nicht. Wir unterhielten uns immer sehr philosophisch und ohne große, höfliche Einleitungen.
„Ich würde die schönste Geschichte der Welt schreiben“, antwortete ich, ohne viel darüber nachdenken zu müssen. „Ich würde es nicht mehr länger aufschieben.“
„Ohhh, interessaant, erzäähl sie mir doch bäätte. Wovon handelt sie denn und warum iist es die schäänste Geschichte der Wäält?“
„Weil ich sie ohne Angst schreiben würde. Ich hätte ja nichts mehr zu verlieren, oder? Könnt nicht versagen, die Meinung der Leute könnt mir egal sein, und ob ich damit erfolgreich bin oder nicht, auch. Die schönste Geschichte der Welt wär deshalb am schönsten, weil ich sie ohne Angst und aufrichtig erzählte. Aber ich kann Dir jetzt nicht verraten, wovon sie handelt, weil ich nicht in sieben Tagen sterbe und weil ich sie nicht aussprechen darf, sonst landet sie nie auf Papier.“ Da war ich ganz abergläubisch. Ziele und Pläne darf man niemandem verraten, sonst werden sie nicht wahr. Und andere wollen zu viel mitreden oder sie dir schlecht machen. Nix gut.
„Och Määnsch“, krähte der Rabe auf meinem Fensterbrett, „gib mir doch wäänigstens ein paar Hinweise. Bääätte. Ich läääbe Deine Geschichten.“
Die schönste Geschichte der Welt hat keinen Anfang und kein Ende. Sie beobachtet und beschreibt, sie interpretiert nicht. Sie enthält Liebe und Tod auf natürliche Weise, sie konstruiert nicht. Es gibt keinen roten Faden, doch alles hängt zusammen. Es gibt keine äußere Ordnung, nur eine innere, für aufmerksame, geduldige Leser auf den zweiten oder dritten Blick erkennbare. Sie wird zur Nicht-Geschichte, wenn man so will, denn die schönste Geschichte der Welt ist das Auflösen dieser, sie ist ein Nicht-mehr-erzählen.

Wie wird eine Geschichte für Dich zur schönsten Geschichte der Welt?

[Essenbach, 2.8.22]

Mutter

Ein Buch, allein in der Welt.

Unabhängig vom Autor
erzählt es dir seine Geschichte.

Er erweckt sie zum Leben,
er ist das Sprachrohr, hat die Finger,
durch die eine Geschichte geboren wird.

Vom Hautpartikel zum Herzklopfen - 
erzähle alles, ohne Sprung.

Du bist die Mutter,
verantwortlich für dein Kind
allein in der Welt.

(Halle, 12.02.20)

erwachend

Die Stadt schlief noch. Wie eine leichte Sommerdecke lag der Dunst über ihr, nur die höchsten Gebäude ragten heraus und blickten von oben herab auf die watteartige Schicht aus Träumen.

Die Gestalten, die vor dem Morgengrauen schattengleich durch die Straßen huschten, waren einsame, gehetzte Figuren, irgendwelchen geheimnisvollen Geschäften nachgehend, für die der Dunstvorhang eine passende Kulisse war.

Tagsüber, vor allem für Gäste, hatte sich die Stadt herausgeputzt: Die Straßen, auf denen diese unterwegs waren, strahlten mit ihren frisch heruntergeputzten Häuserfassaden und den neuen Steinen ihres Pflasters. Touristen gingen ein- bis zweimal die Prachtstraße hinauf und hinunter, und stiegen dann am soeben fertiggestellten, futuristisch aussehenden Bahnhof in ihren Bus, der sie in nur wenigen Stunden in eine der anderen, touristenfreundlicheren Städte brachte. Gegen Abend, wenn die vor Neugier und Gleichgültigkeit erfüllten Blicke sie verlassen hatten, atmete die Stadt erleichtert auf. Niemand blieb freiwillig länger in ihr, außer vielleicht ein paar nostalgieerfüllte, ehemalige Erasmusstudenten, die hauptsächlich betrunken all die Orte abklapperten, an die sie sich noch erinnerten, um dann staunend festzustellen, dass alles noch so wie damals oder eben ganz verändert sei.

Sie atmete auf. Erleichtert konnte sie wieder sein wie sie nun mal war, etwas Putz bröselte von den Fassaden der schicken Häuser der Piotrkowska. Diese Straße war das schicke Kleid, das sie früher nur sonntags angezogen hatte, jetzt aber jeden Tag. Ein paar Nebenstraßen hatte sie noch als Reserve, ihre Lieblinge jedoch lagen etwas außerhalb. Es waren diese die viel getragenen, aber gemütlichen, diejenigen, die nach außen teils etwas schäbig aussahen, deren Innerstes ihr aber am meisten am Herzen lag. Das war sie, die sie so lange unterschätzt und ausgelacht worden war, für ihren funktionellen, mechanischen Charakter, für ihre Raucherlunge, ihre vielen Kamine, ihre fleißigen Bewohner, ihren Ehrgeiz. Auch für ihre Jugend war sie verlacht worden, und jahrelang hatte sie sich unter dem Gelächter verbogen, gebeugt, mit gesenktem Blick und Kopf.

Doch sie hatte gelernt, dass sie nichts dafür konnte, wie sie nun mal war, sie hatte gelernt, dass sie entweder dazu stehen oder untergehen musste. Also war sie aufgestanden, hatte ihre verrauchten und verrußten Kleider abgeschüttelt und ausgeklopft, etwas Gymnastik für den Rücken gemacht, eine gerade Haltung angenommen und den anderen Städten ab sofort tief und entschlossen in die Augen gesehen. Sie war mächtig und groß, schön und hässlich, mystisch und voller Tiefe. Die Geschichten, die sie in sich barg, begründeten ihre Seele, und nur wenige Menschen hatten diese bis heute gesehen – sehen dürfen. Menschen, die sie wirklich sahen, so wie und wer sie war.

Einer dieser Menschen war ich.

Vergangenheit und Geschichte

Vergangenheit sind die vielen Gegenwarten, die nicht mehr sind. Vergangenheit ist jeder Augenblick des Jetzt, das nicht mehr ist. Jeder Schritt, den du vorwärts gehst, lässt sich nie mehr wiederholen. Es ist wie der Fluss, in den du nie zweimal steigst, denn das Wasser ist nicht mehr dasselbe.

Geschichte ist, wenn du die vergangenen Schritte rekonstruierst, die Wege, die du gegangen bist. Um dies zu tun, musst du daran denken, wohin du in jenem Augenblick unterwegs warst, oder aus welchem Grund du diese Schritte getan hast. Ziel und oder Grund. Das ist Geschichte. Dass du dabei Details weglassen musst oder vielleicht auch im Nachhinein Schritten Bedeutung zumisst, die du im Augenblick des Gehens nicht bedachtest, macht Geschichte aus. Deine Geschichte. Oder die Geschichte von jemandem, der dir erzählt, wohin er gegangen ist.

Willst du ergründen, wohin jemand gegangen ist, der dir nichts mehr erzählen kann, weil er nicht mehr auf Erden verweilt, so musst du den Hinweisen nachgehen, die er ob seiner Wege hinterlassen hat. Vielleicht hat er über besondere, eindrückliche Schritte Notizen geschrieben, vielleicht hat er Fotos oder Videos davon gemacht, um selbst nicht zu vergessen, welche Schritte er wann wohin getan hat. Das ist dann seine Geschichte, die du rekonstruierst anhand seiner Hinterlassenschaften.

Haben viele Menschen zur selben Zeit die gleichen oder ähnliche Schritte getan oder Wege beschritten, vielleicht sogar aufgrund des Befehls eines in der Rangfolge über ihnen stehenden Menschen, oder es geschieht etwas und ist geschehen, was die Schritte vieler Menschen in die gleiche Richtung bewegen lässt und ließ, so ist dies die Geschichte von vielen. Die Notizen, die diese oder nur einige dieser über ihre Schritte und Wege hinterlassen, können als Orientierung, als Wanderkarte für die Menschen dienen, die nach ihnen kommen. Anhand dieser können sie nachlesen, ob das Ziel die Wanderung wert ist, wenn ja, welche Straßen sie meiden sollten und welche besonders empfehlenswert sind. Daraus folgt, dass kein Weg, keine Straße, kein Schritt zwei Mal gleich gegangen werden kann: Immer sind entweder die Bedingungen anders, der Mensch ist ein anderer, außen oder innen können sich niemals selben. Doch es lässt sich aus jedem gegangenen Schritt lernen, der jemals auf die Erde gesetzt wurde, denn zum Lernen – oder, mit Platon, zum Erinnern – sind wir da.