Spiel mit Walen

Ich schwimme mitten im Ozean. Das Wasser ist dunkelgrün, fast schwarz, ein Zeichen für seine bodenlose Tiefe.

Ich spiele mit einem Wal, der aussieht wie ein Delfin, und der bestimmt zehn Mal so groß ist wie ich. Er scheint sich sehr zu freuen, er lacht und schlägt wie wild mit den Flossen, er springt aus dem Wasser und um uns herum. Uns, das ist neben mir noch mein Bruder, wir scheinen Spaß zu haben oder zumindest so zu tun, immerhin wollen wir den Wal lieber nicht verärgern. Er springt mit seinem tonnenschweren Gewicht immer fast auf uns drauf, schnell wären wir Fischfutter.

Irgendwann kommen wir auf die Idee, uns doch an seiner Rückenflosse festzuhalten. Auf dem Rücken ist besser als unter dem Bauch oder auch unter dem Rücken, bei einem Rückenplatscher. Man, ist der glitschig und nass, all das Moos oder was der auf seiner Haut hat, gar nicht so leicht, sich da festzuhalten. Mir gelingt es dennoch besser als meinem Bruder, und irgendwann sehe ich ihn nicht mehr.

Plötzlich macht der Delfinwal einen so abrupten Satz, dass ich in hohem Bogen von seinem Rücken und ins tiefe, dunkle Meer fliege. Von weitem sehe ich schon den riesigen Schatten, der dort unter der Oberfläche lauert. Das ist ein anderer Wal, ernster als der unsere, und vor allem größer. In Zeitlupe fliege ich auf ihn zu, das Wasser kommt näher und damit auch das Ende meines Traums.

Ich weiß nicht, was auf mich zukommt, es ist angsteinflößend. Gleichzeitig habe ich vollstes Vertrauen, dass alles gut wird.

Alles ist immer noch ein Traum.

Aufstand der Herzen

Neulich las ich ein Interview mit dem Schriftsteller Daniel Kehlmann. Er warf eine äußerst interessante Frage auf. Was, wenn die überhandnehmende Volkskrankheit namens „Depression“ nicht an den Menschen, sondern am Zustand dieser Welt liegt? Wenn sie eigentlich Ausdruck einer tiefgehenden Gesellschaftskritik ist?

Denken wir diesen Ansatz weiter, ist nichts falsch mit uns, unsere Instinkte liegen richtig.

Sie erzählen uns, wir seien krank; sie stopfen uns mit Medikamenten voll, betäuben uns, während doch die wahre Medizin eine Veränderung des Zustands wäre.

Revolution, die Umwälzung der Gesellschaft, beginnt in den Körpern und Seelen der Menschen, so Aldous Huxley. Dessen sind sie sich genau bewusst.

Um wirklich gesund zu werden müssten wir die starre Verkrustung des Schweigens brechen, das sich über die Jahrzehnte in den Herzen der Menschen festgesetzt hat. Wir müssten das Ideal des Individualismus als Farce entlarven — Wesen der Gemeinschaft sind wir.

Es bräuchte wieder einen Aufstand der Arbeiter, doch solange sich niemand auch für die Billiglohnarbeiter aus und in anderen Ländern einsetzt, ist auch dieser ohne Sinn. Und wer setzt sich freiwillig für diejenigen ein, die unseren Wohlstand aufrecht erhalten? Sklaven sind wir alle, oder wie es bei „Moby Dick“ heißt: Wer ist denn kein Sklave? Wirklich frei ist letztlich nur, der da ist ohne Angst.

Sind diejenigen also, die unter Depressionen, Ängsten, Panikattacken leiden, die eigentlich Gesunden dieser Gesellschaft? Wie ließe sich angesichts des Zustands der Welt wahrhaftig froh sein und angstfrei leben? All die Liebe in euren Herzen nützt doch nichts, wenn ihr beständig auf Mauern stoßt. All die Liebe in einer entseelten Welt. Entseelung ist ansteckend und vererbbar, sie steckt tief in unseren Knochen. Wie sie also so einfach loswerden?

Jeder Akt der Liebe, jede Entscheidung gegen den Hass und für die Gemeinschaft ist eine Rebellion, ein Aufstand der Herzen.

(Halle, 08.05.2021, Fortsetzung folgt)

Der letzte Zug

Im Rückblick erscheint mir jene Zeit wie das Warten auf den Zug, der niemals kommt, und wie der andauernd scheiternde Versuch, diesen Zug zu erwischen. Das mag sich auf den ersten Blick widersprechen, diese Zerrissenheit fühlte sich jedoch genau so an. Ich wusste damals noch nicht, was mich nach dieser seltsamen, anstrengenden Zeit erwartete, ich wusste nur, dass es besonders war. Geduld ist das Annehmen der Parameter der Aktualität, wie mir ein kluger Mensch einst mitgab. Diese Parameter richteten sich zu jener Zeit gegen mich, wer weiß, zu welchem letztendlichen Zwecke. Ich schaffte es nämlich nie pünktlich zum Bahnhof. Immer wieder blieb ich zu lange bei meiner Familie oder alten Bekannten, so dass ich den letzten Zug oder Bus nicht mehr erreichte. Ich wusste zwar, dass es entweder jetzt oder nie an der Zeit war, doch ich schaffte es nicht, von diesen Menschen loszukommen.

Einmal sollte mich meine Familie abholen, wir waren zuvor in einer Art Urlaub gewesen, ich erinnere mich nur verschwommen. Sie fuhren mich zum Bahnhof, weil mein Bus dorthin nicht gekommen war. Im großräumigen Auto, in dem meine Geschwister, Eltern und Großeltern saßen, war vorne über dem Rückspiegel eine Art Taxameter angebracht, das jedoch die Sekunden und Minuten, die bis zur Abfahrt meines Zuges verblieben, in einem Countdown ablaufen ließ. Ich empfand dies als sehr stressig, alle um mich herum nahmen es jedoch leicht und waren sich nicht meiner Dringlichkeit bewusst, diese Reise zu machen. Ich erinnere mich noch genau, dass ich auf dem Taxameter zwei Minuten ablas. Zwei Minuten, bis mein Zug kam. Und eine halbe Stunde Weg mit dem Auto dorthin. Ich wusste, es war zu spät, doch meine Mutter versicherte mir, wir würden es „locker“ schaffen, und, obwohl ich es innerlich besser wusste, beruhigte mich das seltsamerweise. Letztlich war meine Vermutung richtig, das war schließlich kein Traum, in dem unmögliche Dinge Wirklichkeit werden. Ich verpasste den Zug und trat meine Reise nicht an. Glaube ich zumindest, denn ich bin ja immer noch hier.

Ein anderes Mal besuchte ich eine alte Freundin. Es war lustig, andere Bekannte waren ebenfalls da, ich erinnere mich jedoch nur verschwommen an ihre Gesichter und Anwesenheit. Im Nachhinein verschwimmt bisweilen die konkrete Präsenz von Personen, zurück bleibt nur das Gefühl ihrer Energie. Wie ein Pflicht- oder Höflichkeitsbesuch fühlte sich dieses Fest an, zumindest gegen Ende, denn es war erneut die Zeit gekommen, in der ich den letzten Zug mit unbestimmtem Ziel nehmen musste. Dieses Ziel fühlte sich unbekannterweise vertraut, wie ein Zuhause an.

Diesmal war ich eine Stunde vom Bahnhof entfernt. Wenn ich ihn erwischen will, muss ich genau jetzt losgehen, sagte ich zu meiner Freundin. Ach, ist doch halb so wild, ich kann dich mit dem Motorrad hinfahren, wir brechen in einer halben Stunde auf, dann erreichst du ihn locker. Sagte sie und mischte sich wieder unters Partyvolk. Sie hatte nicht wenig Bier intus, als sie mir diesen Vorschlag machte, und das wusste ich innerlich, aber seltsamerweise beruhigte mich ihre bestimmte Ansage. Und während ich einerseits immer unruhiger wurde, verdrängte ich dieses Gefühl und versuchte mit den anderen Menschen Spass zu haben. Fühlen Sie diese innere Zerrissenheit auch? Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, diese Party war nichts für mich, diese oberflächlich feiernden Menschen, die ihre eigentlichen Vorhaben wegschoben, genau wie ich. Ich marschierte los in Richtung Bahnhof, ohne meiner Freundin ein Wort zu sagen. Ich wusste, sie hätte mich wieder zu beruhigen versucht. Wenn ich mich auf die anderen verließ, steckte ich für immer hier fest. Es war eine halbe Stunde vor Abfahrt, und ich wusste, ich würde zu spät kommen, aber ich musste es einfach versuchen. In meiner Erinnerung ist allein dieses Gefühl der Panik zurückgeblieben, aber auch des Ärgers über mich selbst, weil ich es doch immer wieder schaffte, mich von anderen von meinem eigentlichen Ziel abhalten zu lassen. Sollten sie doch feiern bis zum Morgengrauen, mein Weg war dies nicht, ich wollte hier nicht alt werden.

Habe ich es zum Zug geschafft? Ich bin mir nicht sicher, denn noch bin ich hier. Noch muss ich hier ausharren, warten, bis die nächste Gelegenheit kommt, oder bis das Warten endlich ein Ende hat. Ich weiß ja nicht mal, wohin mich diese Züge gebracht hätten. Ich werde es auch nicht erfahren. Wenn der nächste Zug kommt, werde ich die Chance nutzen und einsteigen. Wer weiß schon, ob ich sonst jemals hier wegkomme?